Ich übe für den Himmel
weit geöffnet. Ich habe einen Zettel vorbereitet, auf dem steht:
Lieber Jonathan, nicht erschrecken. Ich stehe unter deinem Fenster und brauche deine Hilfe. Darf ich dein Fahrrad leihen?
Isha
Ich wickle den Zettel mit einem Gummiband um den weichen Stoffball und ziele auf das dunkle, offene Loch. Der Ball fliegt genau in der Mitte durch das geöffnete Fenster. Sicherheitshalber schmeiße ich noch ein paar Steinchen hinterher. Wenn mein neuer Freund davon nicht wach wird, sollte er dringend zum Ohrenarzt. Ich muss wissen, was mit meiner liebsten Freundin im Krankenhaus ist. Und zwar sofort!
Endlich, nach ungefähr fast hundert Jahren, taucht Jonathans verschlafenes Gesicht auf, wie in einem Film. Ich fühle mich auch wie in einem Film.
Ich lege den Zeigefinger auf meinen Mund. Er nickt, verschwindet wieder, ich warte. Ich versuche, meine Ungeduld zu unterdrücken, und sehe mir das alte, neu angestrichene Haus an. Früher gefiel es mir besser, als die Farbe an einigen Stellen abblätterte und die Fensterrahmen nicht so schneeweiß waren. Das große Haus wird vom Vollmond in bläulichweißes Licht gehüllt. Die neuen Stachelbüsche kommen mir von dieser Seite noch bedrohlicher vor als von unserer Gartenseite, fast gespenstisch und wie aus schwarzem Eis. Nach einer Weile wirft Jonathan meinen in Packpapier eingewickelten Stoffball zurück. Er plumpst ins Blumenbeet neben mir. Zwei Schlüssel glänzen im Mondschein. Das weiße Mondlicht hilft mir Jonathans Schrift zu entziffern.
Liebe Isha, ich weiß, wo du hin willst. Mach das, du wirst es schaffen. Frau Schröder liegt im 10. Stock auf der Intensivstation. Am besten gehst du durch den Ambulanzeingang, da laufen ständig Leute ein und aus. Dann fällst du nicht so auf. Mache es so wie ich: Warte, bis Leute reingehen, und hänge dich dran. Tu so, als gehörst du zu denen. Du wirst auf den Schildern die Abteilung finden.
Die beiden Schlüssel sind für den Schuppen und das Rad. Du kennst dich ja aus. Stell es nachher einfach wieder zurück. Wir sehen uns morgen. Ich komme zu euch. Mein Vater kann mich mal.
Viel Glück und grüße sie auch von mir! Dein Freund Jonathan
Da steht es, schwarz auf weiß: Dein Freund Jonathan .
Vierzehn
Nicht nur meine Haare fliegen im Wind, als ich auf Jonathans Nobelrad mit unzähligen Gängen durch das nächtliche Blankenese flitze. Mit den Gängen weiß ich wenig anzufangen. Tante Antje hat keine Gänge. Aber Jonathans Rad rast auch so, ich brauche die Gänge nicht zu wechseln. Als ich die Elbchaussee überquere, passe ich höllisch auf, dass mich keine Polizeistreife oder sonst wer anhält. Die Tankstelle an der Ecke hat schon geschlossen, also ist Mitternacht vorbei. Durch kleine Nebenstraßen fahre ich Richtung Klinik, schnell, schneller. Ich will zu Frau Schröder. Ich will bei ihr sein, will sie sehen und fragen, wie es ihr geht. Vielleicht kann sie doch etwas sagen. Warum habe ich den Notarzt nicht gefragt, ob ich mitfahren darf? Ich habe sie im Stich gelassen. Das muss ich unbedingt wieder gutmachen.
Mit einer aufgeregt sprechenden Familie gehe ich frech wie Oskar durch die Ambulanztüren, die sich automatisch öffnen. Alle reden heftig auf die Schwester am Empfang ein und zeigen auf ein kleines, wimmerndes Mädchen. Ihr Arm sieht merkwürdig abgeknickt aus.
Jetzt, Isha, sage ich mir, jetzt ist deine Chance gekommen! Ich habe aus den Augenwinkeln heraus schon die Hinweisschilder entdeckt und gehe schnurstracks Richtung Fahrstuhl. Der ist zum Glück unten. Ich drücke sofort auf den Knopf mit der 10. Hoffentlich steigt niemand unterwegs ein. Ich kneife fest in meine rote Clownsnase. Plötzlich hält der Fahrstuhl doch an. Im 5. Stock! Ein Mann steigt ein. In Krankenhäusern riecht es immer komisch. Aber der riecht noch mal extra komisch. Nach Alkohol. Der hat eine Schnapsfahne, die bis zur Elbe reicht. Er trägt einen gestreiften, zerknitterten Schlafanzug und einen ausgefransten dunkelblauen Bademantel. Er lehnt gegen die Wand vom Fahrstuhl und sagt: »Na, Kleine, willste auch einen Schnaps?« Er zieht einen Flachmann aus der rechten Tasche vom Bademantel und hält ihn mir hin. »Ich bin hier, um vom Suff runterzukommen. Geht schlecht. Meine Kumpels bringen mir Nachschub. Wir treffen uns meistens in der Nähe vom Landeplatz für den Hubi-Hubschrauber. Big Party. Wetter gut, Stimmung gut, ich auch gut. Auf den Sommer und mich!«
Erst jetzt sehe ich, dass er noch eine Plastiktüte in der linken Hand hält, in der es
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