Ich war zwölf...
und
verweigerte ihm sein Haus. Als der Junge das Messer ergriff, war die Geschichte
bereits 17 Jahre lang im Gange, aber von niemandem beachtet. Wie anders hätte
sein Leben verlaufen können, wenn die Zeugen dieses Elends nicht geschwiegen
hätten. Andrée Ruffos Bemühungen um ein neues, freundliches und ehrliches
Milieu für diese geschädigten Menschen haben Erfolg und beweisen, daß viel
getan werden kann, wenn wir wagen, die Wahrheit zu sehen und aufhören, um jeden
Preis die Taten der Eltern zu beschönigen, zu verharmlosen oder ihre
Verantwortung durch den Hinweis auf deren schwere Kindheit zu bagatellisieren.
Eine schwere Kindheit, sei sie noch so
grausam gewesen, berechtigt niemanden zum Verbrechen. Und ein Kind zu
mißhandeln, es sexuell auszubeuten, ist ein Verbrechen, weil es einen sich im
Wachstum befindlichen Organismus verletzt und nachhaltig schädigt. Wie wird man
zum »Monster«, zu einem Vater, der rücksichtslos die Liebe seines Kindes
ausbeutet, um sich bei ihm das Gefühl von Macht und sexuelle Befriedigung zu
verschaffen? Am Ursprung eines solchen Verhaltens stehen zweifellos seelische
und körperliche Vergewaltigungen, die an diesem Mann in seiner Kindheit verübt
wurden. (Vgl. Abbruch der Schweigemauer.) Da ihm kein wissender Zeuge
damals zur Hilfe kam, mußte das Kind das Geschehene und die damit zusammenhängenden
Gefühle, vor allem den Schmerz und die ohnmächtige Wut des Opfers verdrängen,
um überhaupt überleben zu können. Doch er hat als Erwachsener nicht das Recht,
sein Schicksal an anderen abzureagieren. Als Erwachsener müßte er nicht
sterben, wenn er seine Verdrängung und Verleugnung aufheben würde. Er darf
nicht die Erinnerung an die eigene Demütigung abwehren, indem er sie sein Kind
spüren läßt, um sich dabei groß und mächtig zu fühlen. Und wenn er seine
Verantwortung dem eigenen Kind gegenüber wahrnehmen will, muß er sich mit der
eigenen Vergangenheit bewußt auseinandersetzen. Eltern sollten keinen Freipaß
zum Verbrechen haben. Ihre eigene Kindheit entschuldigt nicht ihre Taten. Nur
wenn sie sich entschlossen haben, diese Vergangenheit zu fühlen, die an ihnen
begangenen Mißhandlungen innerlich zu verurteilen, werden sie sie nicht an ihre
Kinder weitertragen. Sie werden so helfen, die Kette der Mißhandlungen in
unserer Generation zu durchbrechen.
Nathalie Schweighoffers Bericht bezeugt
die Ignoranz, Blindheit und Gleichgültigkeit der Lehrer und Psychologen, mit
denen sie in Berührung kam. Aber er erwähnt auch eine Nachbarin, die etwas ahnt
und nach einer Fernsehsendung über Inzest versucht, mit Fragen das Vertrauen
des Kindes zu gewinnen. Doch woher kann ein Kind wissen, was die fragende
Person mit seinen Antworten machen wird? Es stellt höchstens in seinem
grenzenlosen Mißtrauen fest, daß sie um den heißen Brei herumredet, daß sie
unsicher ist und selber offenbar Angst hat, die Tatsachen beim Namen zu nennen.
Sie erwartet vom Kind, das in Angst und Not ist, daß es sie von ihren Hemmungen
erlöst. Das kann nur in wenigen Fällen gelingen. Im allgemeinen vergrößert eine
solche Erwartung den Abgrund zwischen dem Kind und dem Erwachsenen, der
vielleicht helfen will, aber nicht weiß, wie.
Doch die Sache wäre nicht so
kompliziert, wenn die Nachbarin deutlich und direkt sagen könnte: Ich habe
den Eindruck, daß dein Vater dich sexuell mißbraucht. Mir ist es nämlich
aufgefallen, daß du dich sehr verändert hast, mißtrauisch geworden bist,
vereinsamt wirkst und daß er dich so oft abends in sein Büro mitnimmt und
angeblich bis spät in die Nacht arbeiten läßt. Wenn er dich sexuell ausbeutet,
wäre das ein schweres Verbrechen, das zu Recht mit Gefängnis bestraft wird. Vielleicht
hat er dir sogar gesagt, daß die Mutter sterben oder dich verachten oder
beschuldigen würde, wenn du etwas verrätst. Das wird dem Kind häufig gesagt,
damit es sich nicht wehren kann. Aber das stimmt nicht, mit der Wahrheit kannst
du deiner Mutter helfen, ihre Situation deutlicher zu sehen. Sie muß ja ohnehin
etwas spüren. Es tut niemandem gut, sich so kraß zu täuschen. Du hast das
Recht, dich zu wehren, und ich kann mit deiner Mutter reden und sie
vorbereiten. Das Recht ist auf deiner Seite. Du brauchst Schutz zuallererst vor
deinem eigenen Vater, und wir werden dir helfen, daß er dir nichts antun kann.
So können Frauen handeln, die selber
keine Opfer von sexueller Gewalt waren, oder die ihre einst verdrängten
Gefühle, dank einer aufdeckenden Therapie,
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