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Ich war zwölf...

Ich war zwölf...

Titel: Ich war zwölf... Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nathalie Schweighoffer
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Erwachsenen kommen. Wenn er helfen will, muß er
wissen, daß ein Kind keine Greueltaten erfindet, daß es vielmehr alles tut, um
seine Eltern zu schonen. Es kann unter Umständen die Wahrheit so verdrehen, daß
es sich seiner Eltern nicht zu schämen braucht, aber niemals der Wahrheit mit
erfundenen Geschichten ausweichen, die diese quälende Scham noch verstärken würden.
Trotzdem geht die Gerichtspraxis immer wieder von der falschen Annahme aus, daß
Kinder mit Hilfe von Lügen ihre Eltern belasten würden. Diese Annahme
widerspricht jeder Erfahrung. Die wissenden Zeugen müßten auch darüber
informiert sein, daß ein Kind, das sein Geheimnis verrät, sich in seinem Gefühl
(und manchmal auch real) in die schwerste Gefahr, in die Todesgefahr begibt. Es
ist daher, wie es die STERN-Reportage »Kinderschänder«, 1992, beweist,
unbedingt auf unsere aktive Hilfe angewiesen.
    ICH WAR ZWÖLF müßte Pflichtlektüre sein
für Psychotherapeuten, Ärzte, Psychiater, Lehrer, Jugendberater und Juristen,
die als Richter und Anwälte mit Kindern zu tun haben. Warum? Weil es Wahrheiten
offenlegt und dokumentiert, die uns alle angehen, die aber an den Universitäten
verschwiegen werden. Meines Wissens gibt es auf der ganzen Welt noch keinen
Lehrstuhl für Entstehung und Folgen von Kindesmißhandlungen, obwohl uns die
Folgen dieses Phänomens bis zu Kriegen und zur Planetenvernichtung bedrohen.
Alle Formen der Kriminalität und Massenkriminalität lassen sich auf die
Verdrängung und Verleugnung der einst erfahrenen Grausamkeiten zurückführen,
und ich habe dies an Beispielen der Diktatoren (vgl. Abbruch der
Schweigemauer, 1990, und vgl. Am Anfang war Erziehung, 1980)
illustriert. Leider wurden diese Zusammenhänge in der Fachliteratur und in der
Praxis bis vor kurzem verschleiert, verdreht, bagatellisiert und viel zu wenig
beachtet. Doch in den letzten Jahren haben Medien und Berichte der Betroffenen
Fakten ans Licht gebracht, die die Fachleute endlich zwingen, sich mit dem
Problem der Kindesmißhandlungen auseinanderzusetzen. Auch Nathalie
Schweighoffers Bericht entlarvt die Unwahrheit und Verwirrung der freudschen
und nachfreudschen Theorien über Inzest, die stillschweigend dem Opfer die
Schuld für die Ausbeutung zuschreiben.
    Um den Kindern die Wahrnehmung ihrer
Rechte auf Schutz vor dem Mißbrauch zu ermöglichen, müßten Fachleute aufhören,
dem Problem auszuweichen. Die Lehrer müßten ihre Augen auftun und den Mut aufbringen,
offensichtliche Symptome der Mißhandlungen nicht zu übersehen, die richtigen
Fragen zu stellen und den Schülern richtige Informationen zu vermitteln. Die
Jugendberater müßten das Interesse dafür aufbringen, weshalb sich ein
Adoleszenter mit Hilfe der Droge zerstört oder mit Gewalt andere zu zerstören
versucht, er müßte sich seine Geschichte anhören wollen, statt ihm gute
Ratschläge zu geben und ihn mit seinem Geheimnis alleine zu lassen.
    Die kanadische Kinder- und
Jugendrichterin Andrée Ruffo aus Quebec hat das begriffen und gibt ihren
Kollegen ein wertvolles Beispiel. Sie schreibt, daß sie entgegen der
traditionellen Meinung über die gefühllose Objektivität des Richters ihre
Gefühle braucht, um ihren Beruf verantwortungsvoll auszuüben. Sie braucht ihre
Empörung, ihre Neugier, ihr Mitgefühl, um die ganze Situation zu beurteilen und
nicht an einer Fassade stecken zu bleiben. In ihrem erschütternden Buch »Parce
que je crois aux enfants«, 1988, berichtet sie von straffälligen Jugendlichen,
deren Kindheit sie nachgegangen ist. Sie zeigt, wie sich die ganze Situation
verwandelt, wenn sie, nach dem sorgfältigen Studium der Akten, die Biographie
der Angeklagten entdeckt.
    Da wird z. B. ein Jugendlicher
angeklagt, weil er angeblich versucht hat, seinen Vater umzubringen. In
Wahrheit nahm er ein Messer in die Hand, als sein Vater ihm sagte, er sei nicht
mehr sein Sohn. Und nun entdeckt Andrée Ruffo, daß der Junge bereits mit zwei
Jahren wegen schwerer Verletzungen nach Mißhandlungen seitens beider Eltern hospitalisiert
wurde. Und später immer wieder. Obwohl dies in den Akten vermerkt wurde, hat
keiner der Ärzte etwas unternommen, um das Kind zu beschützen. Weder die Lehrer
in der Schule, noch Nachbarn oder Bekannte unternahmen etwas gegen diesen
Horror. Der Junge kam schließlich auf den Strich, sein Leben begann ihm zu
entgleisen — begreiflicherweise —, und nun empörte sich der Vater über sein
Verhalten, ohne wissen zu wollen, daß er selber es verschuldete,

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