Ich war zwölf...
bewußt erleben und verarbeiten
konnten. J. K. Stettbachers Therapiebeschreibung Wenn Leiden einen Sinn
haben soll (1990), die bereits die siebente Auflage erreichte, ermöglichte
diesen Prozeß bereits mehreren Menschen, auch ohne ständige Begleitung eines Therapeuten.
Doch viele Betroffene hatten nicht die Chance, anzuklagen und sich zu wehren.
Sie mußten lernen, zu vergessen und ihr schweigendes Opferdasein als
unumgängliches Schicksal anzunehmen. Sie lernten, sich mit der Ungerechtigkeit
abzufinden, nichts nachzutragen und zu verzeihen, ohne zu wissen, daß sie für
diese Gefühlsverdrängung mit schweren Symptomen zu bezahlen hatten. Auch ihre
Töchter mußten diesen Preis mitbezahlen, denn um die einstige Verdrängung nicht
zu gefährden, blieben ihre Mütter sehr oft blind und taub für das Elend dieser
Töchter. Sie hielten beide Ohren und Augen fest verschlossen, um sich nicht mit
der Realität ihrer Ehe konfrontieren zu müssen und nicht so an die einstige
unerträgliche Ohnmacht in ihrem Elternhaus erinnert zu werden.
Auch diese Mütter heute werden
vermutlich von der Lektüre des starken, wahren und erschütternden Buches von
Nathalie Schweighoffer profitieren können. Es wird ihnen Mut machen,
hinzuschauen, zu fühlen, »zu merken« und dank den stummen Signalen im Verhalten
der eigenen Tochter ihre eigene Geschichte zu finden, ernstzunehmen und
aufzuarbeiten. Damit sich Verbrechen dieser Art in ihren Familien nicht mehr
wiederholen können. Nathalies Mutter war zu dieser Entwicklung fähig und hat
daher bei der Befreiung ihrer Tochter helfen können.
Nur mit Hilfe der aufgeklärten
Erwachsenen kann ein Kind seine theoretisch bestehenden Rechte wahrnehmen und
beanspruchen. Diese Hilfe sind wir ihm unbedingt schuldig, wir Eltern,
Psychologen, Lehrer, Richter, Drogenberater und seelische Berater jeder Art.
Nur wenn Kinder nicht bloß mit unserem vagen »guten Willen«, sondern auch mit
unserem Wissen und Wissenwollen um ihre Situation, mit unserem vollen
Bewußtsein, rechnen können, haben unsere humanen Gesetze wirklich einen humanen
Sinn und humane Konsequenzen.
Alice Miller
Die folgenden Punkte aus Du sollst
nicht merken von Alice
Miller (1981) mögen helfen, den Kindern
beizustehen:
1. Das Kind ist immer unschuldig.
2. Jedes Kind hat unabdingbare
Bedürfnisse, unter anderem nach Sicherheit, Geborgenheit, Schutz, Berührung,
Wahrhaftigkeit, Wärme, Zärtlichkeit.
3. Diese Bedürfnisse werden selten
erfüllt, jedoch häufig von Erwachsenen für ihre eigenen Zwecke ausgebeutet
(Trauma des Kindesmißbrauchs).
4. Der Mißbrauch hat lebenslängliche
Folgen.
5. Die Gesellschaft steht auf der Seite
des Erwachsenen und beschuldigt das Kind für das, was ihm angetan worden ist.
6. Die Tatsache der Opferung des Kindes
wird nach wie vor geleugnet.
7. Die Folgen dieser Opferung werden
daher übersehen.
8. Das von der Gesellschaft allein
gelassene Kind hat keine andere Wahl, als das Trauma zu verdrängen und den
Täter zu idealisieren.
9. Verdrängung führt zu Neurosen,
Psychosen, psychosomatischen Störungen und zum Verbrechen.
10. In der Neurose werden die eigentlichen
Bedürfnisse verdrängt und verleugnet und statt dessen Schuldgefühle erlebt.
11. In der Psychose wird die
Mißhandlung in eine Wahnvorstellung verwandelt.
12. In der psychosomatischen Störung
wird der Schmerz der Mißhandlung erlitten, doch die eigentlichen Ursachen des
Leidens bleiben verborgen.
13. Im Verbrechen werden die
Verwirrung, die Verführung und die Mißhandlung neu ausagiert.
14. Therapeutische Bemühungen können
nur dann erfolgreich sein, wenn die Wahrheit über die Kindheit des Patienten
nicht verleugnet wird.
15. Die psychoanalytische Lehre der
»infantilen Sexualität« unterstützt die Blindheit der Gesellschaft und
legitimiert den sexuellen Mißbrauch des Kindes. Sie beschuldigt das Kind und
schont den Erwachsenen.
16. Phantasien stehen im Dienste des
Überlebens; sie helfen, die unerträgliche Realität der Kindheit zu artikulieren
und sie zugleich zu verbergen bzw. zu verharmlosen. Ein sogenanntes
»erfundenes« phantasiertes Erlebnis oder Trauma deckt immer ein reales Trauma
zu.
17 In Literatur, Kunst, Märchen und
Träumen kommen oft verdrängte frühkindliche Erfahrungen in symbolischen Formen
zum Ausdruck.
18. Aufgrund unserer chronischen
Ignoranz hinsichtlich der wirklichen Situation des Kindes werden diese
symbolischen Zeugnisse von Qualen in unserer Kultur nicht nur toleriert,
sondern
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