Ich weiß, ich war's (German Edition)
habe doch selber während der Extremphasen nach Literatur und Aufzeichnungen gesucht! Nach Notizen von jemandem, der diese Fragen nach Gott, nach dem Arzt, nach dem Vorgang der Behandlung usw. möglichst sachlich mitteilt. Warum nicht also mal direkt nachfragen? Warum geben Sie Ihr Minibudget nicht endlich mal dafür aus, dass Sie Kranke besuchen, dass Sie Fragen zur Gesundheitsreform stellen. Mal was zur Einsamkeit fragen. Bei dem, der seinen Job verloren hat, keine Familie besitzt und kaum Freunde hat und dann auch noch gegen weiße Flecken im Körper als stumme Todesboten zu kämpfen hat. Was sagt der über so einen Scheißkommentar?
Ach, lass doch, sagen meine Freunde, nicht mal ignorieren würde ich das! Nein, nein, sage ich! Ganz im Gegenteil! Seit einem Monat bin ich verheiratet und seit einer Woche wieder zu Hause in Berlin. Mir geht es eigentlich sehr gut. Ich habe zugenommen, meine Haare sind mittlerweile lockiger geworden, meine Entzündungen auf der Haut sind verschwunden, die abfallenden Fußnägel sind wieder gut. Und gestern war ich wieder zur Kontrolle in der Röhre und – wie soll ich’s sagen –: Meine verbliebene Lunge, rechte Seite, ist wieder voller Metastasen.
Was nun? Schnauze halten? Größe zeigen und Schnauze halten, wie Sie fordern? Ich denke gar nicht daran! Ich werde bis zum letzten Moment von dem erzählen, was Sie sich nicht vorstellen können. Wenn ich Sie damit nerve, dann legen Sie mein Buch oder meine Texte einfach zur Seite. Saufen Sie sich die Sache abends gemütlich. Denken Sie, es wäre Ostersonntag und alle sind bereits in den Himmel oder ins Nirwana oder in die Hölle gefahren. Es ist superruhig, die Natur duftet – und Sie sitzen ganz alleine an Ihrem Schreibtisch und wissen auch nicht, was das zu bedeuten hat. Einfach schön ruhig bleiben, kann ich Ihnen nur raten. Zum Glück ist keiner mehr da, der Ihren Scheiß anhören kann. Und das haben Sie sich doch insgeheim schon immer mal gewünscht! Na bitte, geht doch!
(3. September 2009, Kommentar auf freitag.de)
Am Tag vor der Hochzeit, als ich zum ersten Mal wieder in meine Maschine geredet habe, hatte ich schreckliche Angst, dass ich das alles nicht durchhalte. Auch die Wochen vorher war ich so depressiv, dass ich einfach alles infrage gestellt habe, sogar die Hochzeit. Aber dann sind wir losgefahren, zu diesem Schloss, wo wir gefeiert haben: ein wunderschöner Ort, mit einem Fluss, kleinem See und riesigen Wiesen, die Räume des Schlosses nicht kaputtrenoviert, man konnte unter dem Putz noch die Struktur der Steine spüren – und in der Kapelle gab’s gleich drei Altäre. Das war schon mal sehr schön.
Abends saßen wir dann alle zusammen, ganz friedlich; und ich hatte ein Gespräch mit Franz, dem kleinen Sohn von Martin und Margarita. Franz ist sechs, würde ich mal sagen, vielleicht ist er auch neun, ich weiß es nicht genau. Er sieht jedenfalls aus wie aus »Emil und die Detektive«, da könnte er sofort mitspielen. Wir haben uns also unterhalten, über dies und das, und dann sagt der plötzlich, dass es doch sein könnte, dass manche Menschen jetzt erst leben, obwohl sie zum Beispiel schon um 1600 hätten leben sollen. Oder dass Leute jetzt schon leben, die eigentlich erst in der Zukunft leben sollten. Dass da also die Zeit durcheinandergeraten sei. Wie kommt so ein Knirps dazu, solche Gedanken zu haben, hab ich überlegt. Dann fiel mir ein, dass ich als Kind auch immer so komisches Zeugs gedacht habe. Zum Beispiel dass ich früher manchmal das Gefühl hatte, es gäbe irgendwelche Abkürzungen, von denen niemand weiß. Man könnte also von unserem Haus in Oberhausen schon in einer Minute oben an der Marktstraße sein, man müsste nur den richtigen Weg gehen. Oder ich hatte das Gefühl, dass ich einen Ort kenne, weil mir alles sehr bekannt vorkam, obwohl ich noch nie da war; oder ich dachte, dass ich jemanden schon mal gesehen hatte, aber nicht jetzt, sondern vor hundert Jahren. Solche Sachen hat auch der Kleine plötzlich vom Band gelassen, als kleine Überlegungen für sich. Wir waren echt baff. Beim Zubettgehen dachte ich nur, das allein ist die Sache schon wert, dass ich so etwas hören konnte. Diese Umpolungen im Raum und in der Zeit. Und dass ich mal überlegen sollte, ob ich nicht vielleicht auch zu früh geboren bin oder zu spät. Dass ich vielleicht die ganze Zeit etwas machen wollte, was heute gar nicht mehr geht. Oder was noch nicht geht – und dass ich deswegen nicht so gut zurechtkomme hier.
Am
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