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Ich weiß, ich war's (German Edition)

Ich weiß, ich war's (German Edition)

Titel: Ich weiß, ich war's (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Schlingensief , Aino Laberenz
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Deutschland ist eine unglaublich selbstbetrügerische Veranstaltung. Es hat sich gegen sich selbst gewandt, es ist voller Selbsthass, es hat die ganze Zeit das Gefühl, dass es etwas gutmachen will, aber nicht weiß, wie. Und vor allem will es möglichst nicht gestört werden in dieser Unfähigkeit, etwas gutzumachen. Natürlich kann ich auch nicht leugnen, dass ich sehr deutsch bin.
    Aber darum geht’s ja gar nicht. Es geht darum, dass dieses Deutschland mir gerade wirklich die Luft abschnürt in seiner Betrachtung von Kunst und Kultur. Ich meine, dieses Land ist doch gar nicht interessiert an Kultur. Es ist ein hochkulturelles Land, klar, aber ist es wirklich interessiert an Kultur? Kultur ist doch auch, Erfahrungen zu machen, etwas entdecken zu wollen – und das können wir hier nicht. Jemanden, der hier mal eine wirkliche Erfahrung von sich einbringen will, müssen wir sofort als Boulevard verleumden oder als einen Menschen, der sich nur wichtigtun will. Weil: Wir leben ja noch, wir haben keine Probleme. Wir haben nur die Pendlerpauschalprobleme, wir haben die Verspätung bei der Bundesbahn. Und wir haben das Problem, dass wir keinen Wahlkampf mehr haben: Wir wollen was hören, aber wir hören nichts. Das sind unsere Leidensthemen. Aber was zum Beispiel so ein Hartz-IV-Empfänger aushalten muss, der sagt, ich möchte auch mal verreisen, verdammt, ich möchte auch mal meinen Kindern zeigen, was es heißt, ein anderes Land zu besuchen – so etwas wollen wir nicht hören. Ich meine, wir ziehen gerade Kinder auf, die haben keinen Begriff von Europa, die haben keine Idee davon, was es heißt, in einem anderen Land zu leben. Solche Kinder ziehen wir auf in Hartz-IV-Wohngemeinschaften mit Ein-Euro-Jobs und der Papa muss den Müll wegräumen und die anderen Kinder lachen drüber. Das ist Deutschland.
    Ach, ich weiß auch nicht, ich bin heute Abend wirklich sehr aufgebracht, ich habe eben auch das Gefühl, dass nicht unbedingt alles so weiterlaufen wird, wie ich es mir noch gedacht habe vor einem halben Jahr.
    So sieht’s also aus: »Wer hat geil Krebs?« So einen Dreck schreibt jetzt also der Freitag ? Boulevarddreck wie der Artikel in der FAZ : »Lasst uns mit eurem Krebs in Ruh?« Sollen wir wirklich unsere Schnauze halten? Noch vor einer Woche bittet mich die Chefredaktion vom Freitag , ich solle doch bitte den Aufruf für den Rückzug der deutschen Bundeswehr aus Afghanistan unterschreiben. Da war ich noch in den Flitterwochen. Und nun bekomme ich so einen Dreckskommentar zu lesen? Habe ich jetzt Freitagskrebs? Sie haben doch nicht mehr alle Tassen im Schrank oder besser ausgedrückt, ihr habt gewaltig den Arsch auf. Wie viele Leute haben Krebs und sehnen sich danach, dass sie mal nachlesen können, was da eigentlich los ist. Und zwar nicht in diesen Horrorforen im Internet mit allem Horrorschnickschnack, den man sich vorstellen kann. Sie können gerne mal zwanzig Sonderausgaben mit all den Zusendungen von Krebskranken, Verwandten, Priestern, Ärzten usw. als Sonderdruck rausbringen. Die Briefe liegen hier bei mir. Menschen, die nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Die keinem Gott im weißen Kittel ihre Fragen stellen wollen, weil sie Angst haben, anschließend blöd behandelt zu werden. Wissen Sie eigentlich, was man als Krebskranker für eine unglaubliche Angst hat? Haben Sie überhaupt eine minimale Ahnung von dem, was Sie schreiben? Sollen wir alle ganz ehrenhaft schweigen, damit wir diese schreienden Gesundheitsbilder im TV nicht stören? Supermodels, kräftige Haare, weiße Zähne, Adoniskörper, dazu noch erfolgreiche Börsenkurse – und wir Kranken sind zu laut? Wie bitte? Ich kenne mittlerweile Tausende von Leuten, die Angst haben, zu ihrem Krebs, zu ihrer Verzweiflung, zu ihrer Depression Fragen zu stellen. Wir schreiben mittlerweile unter www.geschockte-patienten.de . Nicht um uns den neuesten Darmkrebs auszumalen, sondern um uns selber zu fragen: Bist du noch autonom? Was war das eigentlich für eine Autonomie, bevor du den Krebs oder ALS oder MS bekommen hast?
    Was Sie beim Freitag da mit dem Spiegel zu rupfen haben, ist mir scheißegal. Mir geht es um jeden Einzelnen, der Angst hat, Fragen zu stellen, seine Ängste zu formulieren, sie zu transformieren, seine Autonomie zu suchen, auch wenn er dann in Ihrem pseudoengagierten Kreis nichts mehr zu suchen hat. Es sei denn, dass er sich gleich am Eingang als gescheiterter Leidenspatron zu erkennen gibt. Aber da haben Sie sich sehr verrechnet!
    Ich

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