Ich will doch nur normal sein!
und dort sollte ich dann auch bleiben. Nachmittags fuhr er dann mit mir zu meinem Vater und meiner Stiefmutter, um meine Sachen abzuholen. Ich weiß davon kaum etwas, es kam mir alles so unwirklich vor. Aber eines wusste ich, denen bin ich sowieso egal, sie haben mich nicht besucht, sich nicht nach mir erkundigt oder mir frische Wäsche gebracht – ich habe nicht existiert für sie. Jürgen hat das alles getan und nun wollte er mit meinem Vater sprechen und ihm sagen, dass ich zu ihm ziehe. Ich habe mich nicht getraut, irgendetwas zu sagen, hatte nur Angst, mein Vater könnte verraten, was ich für eine bin. Ich glaube, Jürgen hat damals gesagt, was der Arzt mit ihm besprochen hat, um zu begründen, dass ich sofort zu ihm ziehen würde. Ich war wie ein Gegenstand, um den sie sich stritten – es kam mir jedenfalls so vor. Alles rauschte an mir vorbei. Und ich hörte nur die Vorwürfe, wie schlecht, undankbar und verlogen ich sei. So habe ich mich auch gefühlt, schlecht, undankbar und verlogen. Dabei habe ich nichts schlecht gemacht, wollte nicht undankbar sein und habe nicht gelogen – aber ich fühlte mich so. Ich selbst wusste eigentlich nicht, wie mir geschah, habe nichts entschieden, nicht ja und nicht nein sagen können. Mein Vater schmiss mir ein paar meiner Sachen vor die Tür und meinte, ich sei der letzte Dreck und solle endlich verschwinden.
Ich war damals 19 Jahre alt, habe mich geschämt und hatte ein schlechtes Gewissen. Was hatte ich verkehrt gemacht? Zu Hause war es furchtbar und ich hätte froh sein müssen, da raus zu kommen. Aber ich kannte Jürgen doch überhaupt nicht gut genug, um zu ihm zu ziehen. Doch ich wagte nichts zu sagen und, wo sollte ich denn hin. Ich musste doch froh sein, dass da Jemand war, der mir helfen wollte. Es war keine Liebe, es war Dankbarkeit und Angst, es könnte zu Hause so weitergehen wie immer, deswegen war ich nun bei Jürgen.
Heute weiß ich, ich hätte mich damals nicht schämen und mich beschimpfen lassen müssen. Ich hätte sagen können, was los war, meinem Vater endlich an den Kopf werfen können, was für ein Mistkerl er doch ist. Aber das habe ich nicht getan. Ich habe gar nicht daran gedacht, sondern habe geschwiegen, keinen Ton verraten und noch Angst gehabt, er würde mich verraten. Er hat mich beschimpft und damit mundtot gemacht – mich schuldig gesprochen, damit ich den Mund gar nicht erst aufmache und etwas sage. Das war immer seine Waffe. Ich nahm also mein bisschen Kram, den ich mitnehmen durfte und ging mit Jürgen mit.
Ein neuer Anfang oder?
Wieder blieb fast alles zurück, woran mir etwas lag. Meine kleinen Schätze, die mir soviel bedeuteten. Doch ich wagte nicht, zu sagen, diese Dinge gehören mir, ich möchte sie gerne haben, sie sind mir wichtig. Nein, ich sagte wieder nichts, obwohl es meine Sachen waren, niemand konnte doch etwas damit anfangen, nur indem er mir diese Dinge wegnahm und mir damit weh tat. Meine Mappe, meine Fotos, meine Bücher, kleine Andenken, Kleidung, selbstgefertigte Handarbeiten und vieles mehr. Ich wagte nicht zu fragen, ich wusste sowieso, ich würde diese Dinge nicht bekommen. Er war mein Vater und er konnte machen, was er wollte und jetzt behielt er eben einfach meine Sachen und warf mir ein paar Dinge, die er mir großspurig gönnte, einfach so vor die Tür. Ich habe ihm nicht gezeigt, wie weh mir das tut, erst als er es nicht sehen konnte, habe ich geweint. Er sollte nicht sehen, wie gemein er war. Mein Vater hat das Ganze dann sogar so schön hin bekommen, dass ich mich so gefühlt habe, als hätte er mich rausgeschmissen und mich angebrüllt. Er war im Recht und ich war der letzte Dreck. Dieser miese Kerl hat es wieder geschafft, sich sauber hinzustellen und ich, ich hatte keine Kraft und nicht den Mut, ihm zu sagen, was er für ein Schwein ist.
Meinen Vater hasse ich und zugleich will ich – ich weiß, es ist blöd – dass er mich anerkennt, mir sagt, ich bin nicht der letzte Dreck. Müsste mir doch völlig egal sein, was dieser Mistkerl von mir denkt, wichtig ist oder wäre besser gesagt, wichtig wäre, dass ich endlich kapiere, er ist schlecht, er ist schuld. Doch ich weiß, wenn ich ihm heute gegenübertreten würde, dann würde er mich sofort mundtot machen, indem er mich schlecht macht, undankbar, dreckig, schlampig, eben, wie meine Mutter. Ehe ich den Mund aufmachen könnte und ihm etwas an den Kopf werfen könnte, was er mir angetan hat, hätte er mich schon erledigt und ich würde es nicht
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