Ich will endlich fliegen, so einfach ist das - Roman
Tonja mir ins Ohr.
Ich reiße den Blick von Lines Rücken los und begutachte Emil. Ziemlich groß, breite Schultern, volles Haar und klare, blaugrüne Augen. Doch, er sieht gut aus. Eher wie ein Sportstudent, aber ihn interessieren offensichtlich mehr die Naturwissenschaften.
Björn kommt mit seinem Laptop und einem schwarzen Ordner unterm Arm hereinspaziert. Er ist schon ewig an der Annelundsschule, aber wir haben ihn erst seit der Achten. Björn macht, wenn man ihn das erste Mal sieht, einen leicht verwirrten Eindruck. Seine Haare sind zerzaust, er bewegt sich irgendwie ruckartig und stottert ab und zu. Aber er hat die Klasse im Griff, kennt sich gut aus in seinen Fächern, und wenn er mal eine Frage nicht beantworten kann, gibt er das einfach zu und verspricht, bei nächster Gelegenheit darauf zurückzukommen. Darum beginnt er die heutige Unterrichtsstunde auch mit einer ausführlichen Erklärung, warum die langwelligen Sonnenstrahlen die Ozonschicht durchdringen, während die kurzwellige ultraviolette Strahlung aufgehalten wird. Oskar hat in der Biologiestunde am letzten Montag danach gefragt.
Als Björn seinen Vortrag beendet hat, entdeckt er Silja und heißt sie herzlich willkommen.
Silja sieht Emil an. »Danke«, sagt sie mit einem Lächeln.
Emil lächelt auch, nickt dann aber eilig Björn zu, als wollte er so das Lächeln weitergeben.
»Wow«, flüstert Tonja in mein Ohr. »Flirtalarm!«
Das Handy in Tonjas Tasche vibriert dumpf. Sie zieht es im Schutz des Tischbeins heraus. Es ist eine SMS von Lukas.
Heute Nachmittag Miranda? Alle vier?
Tonja sieht mich an und ich nicke hastig. Sie tippt eine kurze Antwort und steckt das Handy wieder in die Tasche. Das Benutzen von Handys während des Unterrichts ist bei Björn strengstens untersagt.
»Aber vorher muss ich noch Englisch pauken«, flüstert sie. »Sonst krieg ich das heute auch wieder nicht gebacken.«
Ich werfe einen Blick zu Nils rüber. Er lässt seinen Stift zwischen Daumen und Zeigefinger wippen und sieht nachdenklich aus. Er erwidert meinen Blick nicht. Vielleicht hat Lukas ihn gar nicht gefragt, sondern einfach für ihn entschieden.
Ach ja, die Englischhausaufgabe. Typisch Grace, uns gleich in der ersten Schulwoche nach den Sommerferien was aufzugeben. Ich müsste auch dringend damit anfangen, aber als ich die Bücher in meinem Zimmer auspacke, ist das Wetter draußen so schön, dass ich einfach rausmuss. Ich fahre mit dem Rad zum Katrinebergspark, schließe es am Rand ab und spaziere am Fluss entlang durch die klare Luft. Eigentlich ist der frühe Herbst meine Lieblingsjahreszeit.
Als ich an dem alten Pavillon vorbeikomme, wird meine Brust eng und die spitzen Krallen ziehen ein paar Runden in meinem Innern. Anton und ich haben oft hier gespielt. Das ist jetzt neun Jahre her. Er sitzt still auf einer Bank und schaut aufs Wasser, das an ihm vorbeifließt. Sein Haar bewegt sich leicht im Wind. Ich wünschte, ich könnte mich neben ihn setzen und mich mit ihm unterhalten, aber so funktioniert das nicht. Stattdessen gehe ich schneller, bis ich ins Schwitzen und Schnaufen gerate.
Es ist kurz vor vier, als ich wieder bei meinem Rad ankomme. Da wir erst um halb sechs im Miranda verabredet sind, habe ich noch genügend Zeit zu duschen und mich umzuziehen. Die Englischhausaufgabe verdränge ich erfolgreich und fahre einen kleinen Umweg über die Järnvägsgatan Richtung Bahnhof und Eisenbahnbrücke.
Da sehe ich sie. Ich erkenne sie nicht gleich, sehe nur, wie hoch über den Gleisen irgendein Wahnsinniger auf dem Brückengeländer balanciert. Mein Mund wird staubtrocken vor Schreck und ich mache eine Vollbremsung.
Das ist Silja.
Wie verhält man sich in so einer Situation?
Was würde Tonja tun?
Wenn ich rufe, stürzt sie womöglich ab.
Will sie fallen?
Die Gedanken wirbeln in meinem Kopf durcheinander, als ich mit dem Rad auf die Brücke biege. Zwei Autos bleiben fast zeitgleich stehen. Ein kräftig gebauter Mann steigt aus seinem Wagen und winkt Silja aufgeregt zu.
»Bist du denn von allen guten Geistern verlassen!«, schreit er.
Silja dreht den Kopf zur Seite und schwankt, mir bleibt fast das Herz stehen.
»Ich rufe die Polizei!«, schreit der Mann. »Komm auf der Stelle da runter!«
Das andere Auto steht nur bewegungslos da, aber es steigt niemand aus. Dann kommt noch ein drittes Auto auf die Brücke gefahren und hupt laut, als Silja vom Geländer springt und lachend in meine Richtung rennt.
»Bist du komplett verrückt?«, keuche
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