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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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sind der Balkan und Finnland verlorengegangen. Für den Rückblick ungeheuer vieles in kürzester Zeit. Und doch ist für uns mitteninne das Signum jeden Tages: zu langsam, zu stagnierend! – Eigentlich hat das Fortschaffen der Manuskriptblätter etwas Schildbürgerhaftes: Vor Brandbomben sind die Sachen im industriellen Pirna (unmittelbar neben Küttner, der Fallschirme macht!) mindestens ebenso ungeschützt wie hier. Und sind sie vor der Gestapo sehr viel sicherer? Annemarie ist nicht gut angeschrieben, hat mehrmals angeeckt. Gewiß, sie ist allmählich vorsichtig geworden: Seit dem September 41 trage ich den Stern, am 9. Oktober 41 war sie das letzte Mal bei uns. Trotzdem! Und ich will nicht verkennen, wie sehr sie sich für uns exponiert. Sie weiß nicht nur, daß sie meine Manuskripte aufbewahrt, sie weiß auch, daß es sich um Tagebücher handelt. Sie weiß seit Monaten, daß es sich bei solchem Verhalten nicht mehr um Gefängnis, sondern ganz eindeutig um den Kopf handelt.
    Meine Tagebücher und Aufzeichnungen! Ich sage mir wieder und wieder: Sie kosten nicht nur mein Leben, wenn sie entdeckt werden, sondern auch Evas und das mehrerer anderer, die ich mit Namen genannt habe, nennen mußte, wenn ich dokumentarischen Wert erreichen wollte. Bin ich dazu berechtigt, womöglich verpflichtet, oder ist es verbrecherische Eitelkeit? Und immer wieder: Seit zwölf Jahren habe ich nichts mehr publiziert, nichts mehr zu Ende führen können, nur immer gespeichert und gespeichert. Hat es irgendwelchen Sinn, wird irgend etwas von alledem fertig werden? Die Engländer, die Gestapo, die Angina, die dreiundsechzig Jahre. Und wenn es fertig wird, und wenn es Erfolg hat, und wenn ich »in meinem Werk fortlebe« – welchen Sinn hat das alles »an und für mich«? Ich habe so wenig, so gar kein Talent zum Glauben; von allen Möglichkeiten scheint mir das Nichts, was die Persönlichkeit anlangt, und auf die alleinkommt es ja an, denn was soll mir das »All« oder das »Volk« oder sonst irgend etwas, das nicht Ich bin? – das Nichts scheint mir das Allerwahrscheinlichste. Und nur vor ihm, nicht vor dem »ewigen Richter«, in welcher Form auch immer, schrecke ich zurück. Aber dies alles (das mir täglich durch den Kopf geht, mehrmals täglich) schreib’ ich ja nur auf, weil ich kein leeres Blatt fortschicken will. Und gleich danach wird weitergearbeitet, d. h. gelesen und notiert. Nicht aus besonderer Energie, sondern weil ich ja doch nichts Besseres mit meiner Zeit anzufangen vermag. –
8. Oktober, Sonntag vormittag
    Ich notiere das alles über ein sehr verändertes Grundgefühl hinweg. Gestern zum erstenmal hat »es uns nahegestanden«. Freital neulich war noch nicht Dresden. Diesmal traf es uns wirklich. Um 11.45 Uhr kam Alarm. Ich war bei den Göringnotizen und schrieb weiter, Eva befand sich bei Frau Winde (Bamberger, Ecke Chemnitzer Straße). Um zwölf großer Alarm. Ich nahm den »Tonio Kröger«, ein winziges Bändchen (von Steinitz), in den schwach besuchten Keller mit und las auch eine Weile. Dann schoß Flak, dann hörte man helle heftige Schläge, offenbar Bomben, dann ging das Licht aus, dann war ein starkes schwellendes Rollen und Rauschen in der Luft (fallende Bomben in geringer Entfernung). Ich konnte heftiges Herzklopfen nicht unterdrükken, wahrte aber Haltung. Es wurde ruhiger, vom Kellereingang sah man am Himmel weiße Schlangenstreifen und Kringel (»Kondensstreifen«), in der Gegend des Wettiner Bahnhofs sollten Rauchsäulen stehen (»wahrscheinlich Shelltanks«), man hörte das Signal der Feuerwehr. Dann wieder das Geräusch eines Geschwaders und neue Kräche. Eine alte Frau bekam einen Herzanfall und wurde in ihre Wohnung gebracht. Das elektrische Licht glomm auf, stellte sich wieder her. Neues Flakschießen … Erst gegen halb zwei Entwarnung. Niemand wußte, was geschehen war. Es hieß nur: Gegend Wettiner Straße, Postplatz. Jetzt erst begann ich mich um Eva zu sorgen. Auf dem Postplatz konnte sie sehr wohl gewesen sein. (Es ergab sich nachher, daß sie umein Haar dort in den Keller gemußt hätte; sie fuhr noch in der 6, als der kleine Alarm kam.) Leute aus den Betrieben brachten Nachrichten. Der Straßenbahnverkehr sei unterbrochen, an der Annenkirche seien Schienen zerstört, ein großer Trichter … Ich mußte bis siebzehn Uhr auf Eva warten. Sie hatte zwei schwere Taschen von Windes bis zu »Gertrud Schmidt«, Winckelmannstraße, getragen und dort abgestellt und war darauf zu Fuß

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