Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
Vom Netzwerk:
Heiland«. »Wenn die Welt wirklich wüßte, was er ihr zu sagen und zu geben hat, und wie tief seine Liebe über sein eigenes Volk hinaus der ganzen Menschheit gehört, dann würde sie in dieser Stunde noch Abschied nehmen von ihren falschen Göttern und ihm ihre Huldigungen darbringen.« Aber wichtiger als diese Vergottung ist ein anderes: Zweimal heißt es, er gehe zwar leicht gebeugt, was vom Studium der Karte herrühre, einmal, sein Haar sei ergraut, einmal, in seinem Alter habe »Friedrich der Einzige« schon »der alte Fritz« geheißen. Aber trotzdem, und darauf liegt aller Nachdruck , sei es Lüge, wenn die Feinde Gerüchte über sein Kranksein aussprengten: Er sei gesund, sein Auge strahle jugendlich, und er werde sein Schweigen brechen, wann es ihm, und nicht, wann es seinen Feinden passe. – Ich nahm nach diesem Artikel erst recht an, daß Hitler krank sei. Aber nun hörte ich eben bei Witkowskys, daß er tatsächlich gestern abend im Radio gesprochen habe. –
15. Januar, Montag vormittag
    Am gestrigen Nachmittag Lewinsky hier, für längere Zeit erschien auch Witkowsky, der unverwüstliche Moriturus. Lewinsky hatte wieder von arischer Seite gehört, was wir nun schon von so verschiedenen Leuten gleichlautend gehört haben, was also keine Erfindung sein kann: daß die Deutschen in Polen die gräßlichsten Judenmorde begangen haben. Ein Soldat hatte erzählt,wie man kleine Kinder am Bein gepackt und ihnen die Köpfe an der Hausmauer zerschlagen habe. Gleich darauf las Lewinsky mit äußerstem Schauspielerpathos tiefster Entrüstung aus der »DAZ« vor, welche kulturschändlichen Verwüstungen der letzte englische Terrorangriff auf Nürnberg angerichtet habe, wieviele Patrizierhäuser, Kirchen etc. zerstört seien. Ich fragte ihn, ob er wisse, wer die Synagoge in Nürnberg zerstört habe und den Tower in London, ob er wisse, wieviele Fabriken in Nürnberg für den Krieg arbeiteten. Ich sagte ihm, ich finge an rot zu sehen, wenn ich bloß das Wort »deutsche Kultur« hörte. –
25. Januar, Donnerstag abend, 19.30 Uhr
    Frau Stühler klagt oft über die nationalsozialistische Verranntheit und gläubige Siegesgewißheit ihrer Kolleginnen in dem Konfektionshaus Böhme am Georgsplatz. Heute erzählte sie, die Weiber seien verängstigt, rechneten mit dem kommenden Einzug der Russen, stritten darüber, ob es besser, zu bleiben oder zu fliehen – Flucht wird von der Mehrzahl vorgezogen, die Russen werden als besonders grausam und mörderisch hingestellt. – Eben war ich unten bei Waldmann, nach dem Heeresbericht fragen und die jüdische Stimmung erforschen. Berger war da und Werner Lang – sehr merkwürdig die Eleganz der Klubsessel in diesem Kellerraum hinter der unwirtlichen Diele. Die Russen sind bei Brieg über die Oder, sie sind (deutscher Bericht!) nahe bei Breslau, in Bromberg Straßenkämpfe, Elbing scheint erreicht, Oppeln ist genommen … Auch unsere Leute rechnen mit russischem Vorstoß gegen Dresden. Es soll schon ein Gewimmel von Schlesienflüchtlingen hier sein. Es scheint wirklich, als ob nun das Ende rasch und nicht mehr aufhaltbar nahe. –
    Erstaunlich und beinahe beängstigend, daß wir seit vielen Tagen ohne Fliegeralarm sind. Jetzt, wo die Russen bei Breslau stehen! Was bereitet sich vor? –
3. Februar, Sonnabend morgen
    Wir kennen den gestrigen Heeresbericht nicht. Frau Stühler brachte aus ihrem Geschäft heim, russische »Panzerspitzen« seien in Berlin eingedrungen; Eva von Kreisler (+ Winde und Richter), in Berlin sei alles chaotisch verstopft durch aufeinanderprallende Flüchtlingsmassen und Truppentransporte, und auf dieses Chaos sei ein doppelter Fliegerangriff (der Anlaß zu unsern beiden letzten Alarmen) niedergegangen. Auf der Stühler- wie auf der Kreislerseite hatte man von Leuten gewußt, die den endgültigen Zusammenbruch in den allernächsten Tagen erwarteten.
    Abends neunzehn Uhr
    Stimmung wieder sehr gesunken. Es kam Nachricht, daß die Russen nicht in Berlin seien, und daß ihr Vormarsch gestoppt sei. Es kam Nachricht, daß die Vier-Wochen-Rationskarte auf viereinhalb Wochen ausgedehnt sei – wo wir eh schon nicht entfernt mit dem Brot auch nur vier Wochen ausreichen, und wo wir in diesen letzten Tagen – fast ganz auf trocken Brot und Pellkartoffeln ohne alle Zutat angewiesen – den Hunger bereits kennengelernt haben.
8. Februar, Donnerstag abend neunzehn Uhr
    Vom Krieg seit 48 Stunden keine Neuigkeit. Es geht zu langsam für uns. –
    Angst haben alle. Die Juden

Weitere Kostenlose Bücher