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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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»Freiheitskampf«, sei gestern geschehen, der Führer habe heute nacht im Rundfunk gesprochen. Er gab uns die Zeitung. Da stand das Attentat, die Namen der anwesenden und der verletzten Offiziere – aber nichts von den Tätern, nur die Vermutung, der Secret Service sei der Schuldige. Neumark fügte hinzu, von deutschen Offizieren munkele man (aber die Juden hätten besondere Vorsicht zu wahren, denn sie würden bestimmt beobachtet); die Frau Witkowsky sagte: Es seien aber eben »Extrablätter« mit den Namen der Erschossenen herausgekommen. Mehr und Authentischeres habe ich bis jetzt, sieben Uhr abends, im Judenhaus nicht erfahren können. Auch Stühlers rätseln. Er sagte: Vielleicht sei alles Lüge, weil ER sich in den Ruf der heiligen Unverletzbarkeit setzen wolle. Ich: Es wäre Selbstmord anzugeben, daß sich die Armee gegen den Führer gewandt habe, das sei ja nicht einmal im November 18 geschehen. Stühler: Vielleicht ist die Nachricht, deutsche Offiziere seien die Täter, falsch. Wie sollten sie, mitten im Hauptquartier? Und wie sollte der deutsche Rundfunk das zugeben? – So wenig wissen wir im Judenhaus, was vorgeht. – Eva ist bei der Kreislerin, vielleicht bringt sie von da Neuigkeiten mit. Und hoffentlich solche, die uns über den krassen Hunger der letzten Tage trösten und hinweghelfen. – Eben Musik vorbeimarschierender Soldaten; Stühlers berichten, es sei durch Maueranschlag Großkundgebung für Hitler angesagt. –
    Nach acht Uhr
    Hier – beim Semikolon oben – kam erst Katz, der einen Patienten im Haus hat und uns bei dieser Gelegenheit öfters besucht, danach Eva. Bis jetzt wissen wir: Hitler sagte heute nacht (steht in der Zeitung), eine »kleine Clique dummer Offiziere« habe ihn beseitigen wollen, sei aber schon unschädlich gemacht, ihn selber habe »die Vorsehung« bewahrt. Und dann im Widerspruch zum Unschädlichmachen: Er befehle dem Heer, keinerlei Weisung von den Usurpatoren anzunehmen. Der Ausdruck Usurpatoren wiederholt. (Ich schlug im Lexikon nach = usu raperes). Ferner, er übertrage den Oberbefehl des Heimatheeres an Himmler. Soviel also Tatsache. Dazu Gerücht: Es seien irgendwo – Ort unbekannt – Unruhen, Flieger gegen Aufständische eingesetzt. Englischer Funk: Es herrsche »Bürgerkrieg« in Deutschland. Witz Professor Windes (Eigenfabrikat?): Ganz Deutschland stehe trauernd an Hitlers leerer Bahre. – Katz erzählte: Der sehr nervöse Neumark und etliche andere Juden hätten heute nacht schon den Koffer gepackt gehabt. Dazu sagte ich, und Katz schloß sich dem an: wozu Koffer packen? Wenn sie uns jetzt holen, geht es nicht nach Theresienstadt, sondern an die Wand oder den Galgen. Weiter sagte Katz noch, Kowno solle wirklich in russischer Hand sein und deutsches Grenzgebiet unter Artilleriebeschuß liegen. –
    Ich will bis zum letzten Augenblick weiter beobachten, notieren, studieren. Angst hilft nichts, und alles ist Schicksal. (Aber natürlich packt mich trotz aller Philosophie doch von Zeit zu Zeit die Angst. So gestern im Keller, als die Amerikaner brummten.)
22. Juli, Sonnabend nachmittag Abends
    Den ganzen Tag (inmitten rauschender Weltgeschichte) ohne jede Nachricht. Kein Heeresbericht, nichts über die innere Lage aufgeschnappt, keine Abendzeitung gesehen – absolut nichts. Und ich glaube, es wird auch nichts Wesentliches geschehen sein. Sie sind hart im Nehmen, auch der 20. 7. wird Zwischendatumbleiben, weitab vom eigentlichen Beginn der Katastrophe. Ich finde mich ins Notizenordnen zum Rosenzweig zurück. Er vaut nicht die aufgewandte peine und Zeit.
23 Juli, Sonntag vormittag
    Keine Nachricht. Da aber in Dresden alles ruhig, so ist anzunehmen, daß die NSDAP auch diesmal siegreich geblieben ist. Wir wären also wieder dem Ende ein Stückchen näher, aber nur ein Stückchen dem entfernten Ende.
    Gegen Abend
    Vormittags war Steinitz lange bei uns. Auch er wußte nichts. Nur Gerüchte. Danach sollten fünftausend Offiziere etc. verhaftet und erschossen worden, es sollten auch – und das wäre ungeheuer wichtig – zahlreiche Berliner Arbeiter verhaftet sein. – Eben brachte Cohn die Sonntagszeitung: Danach ist binnen »sechs Stunden« der letzte Verschwörer beseitigt worden, und nun fühle sich das jubelnde Volk doppelt stark und zuversichtlich – und mehr also wird man nicht erfahren bis zum »Endsieg« oder zum nächstenmal. (Wann also?) Am Pirnaschen Platz hörte Eva den Heeresbericht: kleine Fortschritte der Anglo-Amerikaner in der Normandie, große

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