Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
er’s doch, so wären die Folgen für uns alle unberechenbar –, offiziell seien Cohn und Stühler an den Folgen einer septischen Angina gestorben, den Seuchenverdacht (etwa vom Brot her) habe er, Katz, nur privat, nur »freundschaftlich« mir gegenüber und zu mir allein geäußert, und er verpflichte mich zum Schweigen.
18. Dezember, Montag morgen (und später – ich werde wohl tagüber mit Notizen zu tun haben)
Am Sonnabend vormittag bekam ich von Hesse nur einen Zentner Briketts. Er sagte, vor Januar sei nun gar nichts mehr zu haben, er sagte, es werde eine Kohlenkatastrophe geben. Inzwischen ist ernstlicher Frost eingetreten. Mir beinahe, nein wirklich lieb: Denn das wird die Russen in Bewegung bringen.
Frau Stühler erzählte früh, während ich abwusch: Sie habeBrief aus Heidelberg; dort, obschon noch nicht zum Kriegsgebiet erklärt, lebe man wie in der Hölle. Mehrere Tage in der Woche ganz ohne Gas, ständig im Keller – wir hier hätten keine Ahnung vom Krieg. Sodann: Gestern bei ihrer Luftwache (im Modehaus Böhme in der Waisenhausstraße) sei ihr wieder die Borniertheit des Volkes (Volk – dies ist der Punkt mit dem unlöslichen Fragezeichen) aufgefallen: Ein paar Leute, nicht ganz ohne Bildung, seien noch immer fest vom Siege Deutschlands überzeugt; nachdem es die schweren Sommermonate überstanden habe, komme es jetzt wieder voran. – Also wirkt die Propaganda der Presse etc. doch? Aber auf wieviel Prozent der Bevölkerung? Und wieweit ist Sachsen, wieweit das verschonte Dresden, wieweit dies Grüppchen von drei, vier Leuten charakteristisch für das Ganze? Immer wieder die gleiche Unmöglichkeit des Wissens. –
31. Dezember, Sonntag abend, halb acht
Eben, ich war beim Vorlesen, kam Alarm. Sehr kurzer, 18.50 Uhr bis 19.10 Uhr, aber wir mußten gleich über glatten Schnee und durch Dunkelheit in den Keller. Ein wenig greift mir doch jeder dieser Alarme an die Nerven: Zweimal in diesem Jahr hat das verschonte Dresden doch immerhin je ein paar hundert Tote gehabt. Heute, was ich schon morgens beim Kohlenheraufholen merkte, wurde mir der Treppen-Gepäckmarsch besonders schwer; mein Herz redet mit zum Silvesterrésumé. Das einzige wesentliche Datum des Jahres war für mich der 24. Juni. Der Tag meiner Entpflichtung. Seitdem bin ich die Fabriksklaverei los, seitdem habe ich – erst fiel mir’s schwer, jetzt bin ich’s wieder gewohnt – ausgiebiger für mich arbeiten können, d. h.: aufs Geratewohl Lektüre treiben sub specie LTI. Aber seit dem 24. Juni stehe ich auch sehr bewußt unter doppeltem Todesurteil: Wenn ich nicht sehr herzleidend wäre, hätte Katz diese Dienstentpflichtung nicht beantragen und nicht durchsetzen können. (Freilich half wohl auch die Augenlähmung ein bißchen mit, die sich inzwischen fraglos ein wenig gebessert hat.) Sodann: Wenn es zur Evakuierung Dresdens kommt, würde ich als arbeitsfähigirgendwo schanzen müssen, während ich als nutzloser Judengreis fraglos beseitigt werde.
Der Zukunft stehe ich mit geringer Hoffnung und stumpf gegenüber. Es ist sehr fraglich, wann der Krieg zu Ende sein wird (obschon im Augenblick die deutsche Chance bei stockender Westoffensive und verlorenem Budapest wieder gesunken ist). Und es ist mir noch fraglicher, ob ich aus dem Frieden noch etwas für mich werde herausholen können, da ich doch offenbar am Ende meines Lebens stehe. –
Irgendwie mich mit dem Todesgedanken abzufinden vermag ich nicht; religiöse und philosophische Tröstungen sind mir vollkommen versagt. Es handelt sich nur darum, Haltung bis zuletzt zu bewahren. Bestes Mittel dafür ist Versenkung ins Studium, so tun, als hätte das Stoffspeichern wirklich Zweck.
Dunkel drückend ist auch meine Finanzlage: Bis zum April, bestimmt nicht länger, reicht mein Bankkonto. Aber diese Geldsorge bedrückt mich wenig. Sie scheint mir klein, wo ich mich immer, und zwiefach, dreifach, in unmittelbarer Todesnähe sehe.
Sehr enttäuschend geht das Jahr zu Ende. Bis in den Herbst hinein habe ich, hat wohl alle Welt es für sicher gehalten, daß der Krieg vor Jahresschluß fertig sei. Jetzt ist das allgemeine Gefühl und auch meines: vielleicht in ein paar Monaten, vielleicht in zwei Jahren.
Zweiter Silvesteralarm, ohne Keller, 22.15 Uhr bis 22.30 Uhr. Wir wollten gerade schlafen gehn.
1945
1. Januar, Montag, neunzehn Uhr
Im »Reich« vom 31. 12. ein Goebbels-Artikel, »Der Führer«, so maßlos verherrlichend, daß die Überschrift ebensogut heißen könnte: »Der
Weitere Kostenlose Bücher