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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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dort im gleichen Koffer liegen, auf einen Schlag vernichtet. Aber ich fürchte die Gestapo mehr als die Amerikaner. Und alles ist Schicksal, und Sicherheit ist nirgends.
4. September, Montag vormittag
    Lewinsky blieb gestern aus. Aber Eva spielte sehr schön Klavier; ich höre sie jetzt oft wochenlang nicht; doch musiziert sieaushäusig ein wenig mit Glaser und mit Frau Kreisler – dabei gibt es allerhand zu essen, zu rauchen und auch heimzunehmendes Essen und Rauchzeug.
    LTI . An allen Häusern steht neben einem Kreidekreis und -pfeil: LSR – Luftschutzraum. Wir hörten als neue Deutung: »Lernt schnell Russisch«.
10. September, Sonntag vormittag
    Ein besonderes Charakteristikum der LTI ist die schamlose Kurzbeinigkeit ihrer Lügen. Immerfort geht man kaltschnäuzig von Behauptungen ab, die man tags zuvor gemacht hat. »Sie können nicht landen. – Sie kommen nicht über den Atlantikwall hinaus. – Sie brechen nicht durch …« Und jetzt: »Das war alles vorauszusehen und ist bei ihrer Übermacht erstaunlich spät eingetreten. Sie können uns aber nicht zur Entscheidungsschlacht zwingen, ehe wir nicht im dafür vorgesehenen Raum stehen, wir setzen uns mit genialer Tüchtigkeit ab …« Von V1 ist es still geworden. Einmal in diesen Tagen hieß es: »unregelmäßig« geworden »wegen der Ereignisse in Nordfrankreich«, aber wieder aufgenommen. Jetzt Stillschweigen davon.
14. September, Donnerstag vormittag
    Eva brachte abends, ohne die Berichte selber gehört oder gelesen zu haben, als letzte Bulletins nach Hause: Im deutschen Heeresbericht: englischer Angriff auf Aachen, im englischen: im Angriff auf Trier deutsche Grenze in 35 km Breite überschritten. Auch im Osten soll neue Offensive im Gang sein. –
15. September, Freitag vormittag
    Die Stumpfheit oder Abgestumpftheit der Phantasie! Ich bin so an die Nachrichten von bombenzerstörten Städten gewöhnt, daß mir das gar nichts ausmacht. Gestern bei Steinitz – der Weg galt dem Uhrmacher, der mir für die Zeit der Reparatur einen unförmlichen Wecker lieh – ergriff mich ein Brief, den ihm ein Freund aus Königsberg geschrieben: Evas Heimatstadt ist zu 75Prozent zerstört, nach amtlichen Berichten sind 5000 Menschen tot und 20 000 verwundet; der Schreiber und seine Frau hatten nichts gerettet, als was sie auf dem Leibe trugen, drei Verwandte des Mannes, eines alten Amtsrichters, sind tot. Das erschütterte mich, und wie ich morgens – purpurnstes, glühenddunkles Morgenrot – beim Abwaschen auf die Carolabrücke und die Häuserreihe drüben hinaussah, stellte ich mir immerfort vor, diese Reihe bräche vor meinen Augen plötzlich in sich zusammen – wie das ja tatsächlich in jeder Stunde geschehen könnte und ähnlich alle Tage irgendwo in Deutschland wirklich geschieht. Aber wenn nicht gerade in den nächsten Stunden Alarm kommt, sinkt diese Vorstellung natürlich zurück, und ich hoffe weiter auf »Churchills Tante«. Bisher ist ja Dresden selber wirklich verschont worden, das bedrohlich helle Krachen neulich ging nicht von Bomben aus, sondern von eigener Flak. –
    Leitartikel des »Reichs« vom 3. September: Goebbels: »Die Festigkeit unseres Vertrauens«. Es ist schamlos und verbrecherisch und bewundernswert im gleichen Maße, wie man immer wieder, allen dementierenden Ereignissen zum Trotz, den Leuten dieselben Phrasen vom sicheren Endsieg, von der »für uns arbeitenden Zeit«, von den kommenden neuen Waffen einhämmert. Wie man immer wieder die gleichen Vokabeln gebraucht: Die »Rückläufigkeiten« werden zugegeben, aber unsere »Kriegsmoral« ist die höhere, wir bilden eine »verschworene Gemeinschaft«, »wir werden nicht müde werden, unserem Volke immer wieder vor Augen zu halten, daß alle Chancen zum Endsieg in unserer eigenen Hand liegen. Es kommt heute nicht mehr so sehr darauf an, wo wir kämpfen, sondern daß und wie wir kämpfen … Uns wird der Atem nicht ausgehen, wenn es zum Endspurt kommt.« Das Tollste an diesen Phrasen ist wohl das: gleichgültig, wo wir kämpfen! Sie wissen, daß der Krieg verloren ist, und lassen Stadt um Stadt zerstören, um für sich noch ein paar Wochen oder Monate zu gewinnen. Sprachlich festzuhalten ist die engstirnige Gleichförmigkeit und Eintönigkeit der LTI bis zuletzt.
27. September, Mittwoch morgen
    Heute nachmittag will Eva nach P. Das letztemal war sie am 8. Juli draußen. In diesen knappen drei Monaten ist der ganze Zusammenbruch im Westen, sind das Hitlerattentat und das Hängefest erfolgt,

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