Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
zurückgekommen.
Es scheint nun doch nichts zu sein mit Churchills Tante und dem Versprechen an Benesch. Eva mußte heute ihre Taschen mit Sauerkraut und geschenktem Obst von der Winckelmannstraße abholen; sie fuhr schon um zehn fort, da der Alarm gewöhnlich um die Mittagszeit kommt und da sie dann wenigstens aus Bahnhofsnähe heraus sein sollte. Es ist jetzt gegen dreiviertel eins, sie ist noch nicht zurück – sie wird die Radio-»Luftlage« gehört haben, und der Alarm ist ausgeblieben. Immerhin: Die relative Ruhe dem Bombenkrieg gegenüber ist für uns (und wohl auch für ganz Dresden) aus.
Gestern abend besuchte uns Katz; ihn drückte eine andere Sorge: Wenn es zur Evakuation Dresdens käme, dann stünde den Mischehemännern und Mischlingen KZ Buchenwald bevor; man sei mit den Juden anderer evakuierter Städte so verfahren. Katz nannte das den »Engpaß«. Wenn die deutsche Front zusammenbreche, müßten wir Juden durch den »Engpaß«. –
11. Oktober, Mittwoch vormittag
Stühlers sagten: »Man wartet täglich auf die Flieger wie früher auf Clemens und Weser (die Gestapobluthunde).« Ich: Dann zöge ich die Bomber vor. – Das ist auch wirklich so. Aber grausam auf die Nerven geht auch der heutige Zustand. Über Verstümmelungen und Todesfälle am Sonnabend hört man greuliche Einzelheiten, über die Zahl der Toten divergierendste Angaben. –
24. Oktober, Dienstag morgen
Am Sonntag abend war Konrad ein paar Minuten bei uns. Er äußerte sich – und mit vieler Wahrscheinlichkeit hinter seiner Annahme und Berechnung – furchtbar pessimistisch über das Schicksal der in die Hitlerhand gefallenen Juden, der polnischen, ungarischen, balkanischen und der in den Osten deportierten deutschen und anderen Westjuden. Er glaubt (nach Soldatenberichten), daß vor den Rückzügen alles ermordet worden ist, daß wir niemanden wiedersehen werden, daß sechs bis sieben Millionen Juden (von den fünfzehn existiert habenden) geschlachtet (genauer: erschossen und vergast) worden sind. Die Lebensaussichten für uns kleinen Judenrest hier in den Klauen der verzweifelnden Bestien hielt er auch für gering – auch, insofern er darin ähnlich urteilt wie die Dresdener Judenheit überhaupt. –
Wir hören jetzt auch von arischer Seite Klagen über den sich verschärfenden Hunger und die wachsende Lebensgefahr. Ich sage mir immer: Uns, den Juden, ist beides reichlich doppelt zugemessen: Wir bekommen erschreckend viel weniger Lebensmittel, und unserm Leben droht nicht nur die Bombe, sondern mehr noch die Gestapo. Das Gerücht von der Trennung der Mischehen erhält und verstärkt sich. –
26. November, Sonntag spätnachmittag
Cohn starb an Mandelabszeß und Sepsis, und an Mandelabszeß und Grippe liegt jetzt Stühler. Katz, der ihn heute geschnitten hat, ist zweimal täglich hier und sitzt dann fast jedesmal lange bei uns. Er sagt, Grippe und Mandelabszeß scheine verbreitet, er sieht sehr düster in die Zukunft: Seuche, Unterernährung, Arzt- und Medikamentenmangel und kein Kriegsende – Hitler scheint ausgeschaltet, Himmler schlimmer als er. »Er ist imstande, Dresden selber anzuzünden, wenn die Alliierten es als einzige Stadt verschonen!« Er sieht auch Tod für uns Sternträger und blutigen Bürgerkrieg für alle voraus. –
1. Dezember, Freitag vormittag
Stühler ist heute nacht gestorben – man kann das Gruseln lernen. Ich will aber wieder, und was auch kommen mag, bis zuletzt ganz kalt berichten. – Um halb zwei weckte uns Frau Stühler: Sie höre keinen Atem, fühle keinen Puls. Stühler lag mit offenen, aber nicht gebrochenen Augen auf dem Rücken, das Gesicht schmal und starr – nicht eigentlich friedlich, aber auch nicht leidend, nur kalt und abweisend. Offenbar tot, aber ich hatte keine Sicherheit dafür. Wir klopften bei Frau Cohn.
Ich graute mich in den Schlaf, kam um sechs Uhr nach vorn, fand Frau Stühler auf unserem Sofa und graute mich weiter, empfand die ganze Nutzlosigkeit der Desinfektionsversuche und gab uns in Schicksals Hand. Ich ging noch vor dem Frühstück zu Neumark und telefonierte mit Katz. Katz’ Stimmung war über Nacht eine vollkommen konträre geworden. Ich solle nicht übermäßig ängstlich sein, von einem Desinfizierenlassen durch die Behörden könne heute, im Kriege, nicht die Rede sein; die »Hausgemeinschaft« möge sich selber schützen, indem sie die Fußböden mit Lysol aufwische. Er, Katz, habe »amtlich« keinen Anlaß, ja, kein Recht, Meldung zu erstatten – täte
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