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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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unmöglich. »Der Aufseher« – das waren zwei-, dreimal wechselnde Polizeiwachtmeister, alte und junge, mürrische, grobe, gleichgültige, beinah höfliche, und dabei war es doch immer im wesentlichen der Aufseher. Keiner war brutal oder gar unmenschlich, aber jeder hatte das Bestreben der Unnahbarkeit, das Bemühen, so wenig als möglich mit dem Gefangenen sich abzugeben, um keinen Preis von dem abzuweichen, was er vorschriftsmäßig als sein Minimum zu leisten hatte. Die Tür wurde spaltbreit geöffnet und sofort wieder zugeworfen. Nur ein paarmal gelang mir rechtzeitig der Anruf: »Herr Wachtmeister.« Die Antworten auf meine Bitte lauteten: Das erste Mal: »Muß schriftlich geschehen, fragen Sie den Beamten morgen früh, jetzt ist es zu spät.« Das zweite Mal: »Schreibtag ist Montag.« Das dritte Mal: »Wenn sie Ihnen unten weggenommen ist, kann ich sie Ihnen nicht wiedergeben.« Das vierte Mal (ein Mann mit sehr gutmütigem und intelligentem Gesicht): »Ich will mir’s überlegen.« Nach einer Weile kam er wieder und hielt mir den »Freiheitskampf« hin: »Wollen Sie lesen?« – »Ich kann doch nicht ohne Brille, Herr Wachtmeister.« Da zog er das Blatt zurück und schloß die Tür. Das fünfte Mal (ein besonders mürrischer): »Statt Ihre Zelle auszufegen, äußern Sie Wünsche; man äußert keine Wünsche im Gefängnis.« – »Aber Herr Wachtmeister, ich bin doch in Haft.« – »Das ist ganz gleichgültig, Sie sind im Gefängnis, da brauchen Sie keine Brille.« Diesen Versuch machte ich am Donnerstag, und sein Scheitern hatte eine böse Folge.
    Die einzige wirkliche Qual, die gar nicht zu betäubende und immer zunehmende, bestand in der völligen Beschäftigungslosigkeit, in der entsetzlichen Leere und Unbeweglichkeit der 192 Stunden. Da über mir ging es immerfort tap-tap-tap-tap. Vier Schritte in diesem Tempo, das waren noch nicht einmal vier Sekunden. Wie viele Schritte kamen auf nur eine Stunde?
    Am Montag nach dem Essen, als zum erstenmal der Napf herausgestellt und der Wasserkrug hereingenommen war, als die erste Nacht bei hellichtem Tage für mich begonnen hatte, stiegdie bis dahin zurückgedrängte Verzweiflung hoch. Jetzt war ich schon eine Endlosigkeit hier, eine wirkliche Endlosigkeit. Das läßt sich ja nicht beschreiben. Womit denn? Wiedergeben kann man, was geschehen ist, das kleinste Ereignis, den kleinsten Gedanken. Aber die Endlosigkeit besteht in dem, was dazwischen liegt, in dem bloßen Gefühl des Käfigs und der Leere, in dem Nichts der vier Schritte zum Fenster und der vier Schritte zur Tür, in der bewußten Abgestorbenheit.
    Nur das Siebenuhrschlagen nicht überhören! Nur ins Bett und schlafen, sobald es erlaubt ist, nur mich nachher in neuen Schlaf kratzen! Ich wachte mit einem schlimmeren Druck auf der Seele auf als den Tag zuvor. Ich würde mich heute nicht gegen das Nichts wehren, ich würde froh sein, wenn ich ganz gedankenlos hindämmerte. Und dann kam gänzlich unvermutet der Trost, der Umschlag meiner ganzen Situation und Stimmung. Hinter dem Kaffeepott-Träger stand als Schließer derselbe Beamte, der mir neulich am Schalter das »Scher dich« zugeschrien, der einzige, der mich in diesen Tagen brutal behandelt hatte. »Wollen Sie rasiert sein?« fragte er. »Ja, gern«, antwortete ich, und schon die Aussicht, den Bart loszuwerden, war eine kleine Erfreulichkeit. Aber merkwürdigerweise warf der Wachtmeister die Tür nicht zu, sondern sah mich ein paar Sekunden nachdenklich an. »Sie sind, Sie waren Professor an der TH – weshalb sitzen Sie eigentlich hier?« – »Verdunklung.« – »Da haben Sie wohl als zerstreuter Professor vorher ein halbes dutzend Mal Strafe zahlen müssen?« – »Nein, nie, es war das erste Versehen nach anderthalb Jahren.« – »Nicht möglich.« Pause. »Ach, Sie sind wohl Nichtarier?« Er sah beinahe betrübt aus. Ich nutzte spontan die Chance: »Herr Wachtmeister, es ist für einen Professor scheußlich hart, hier so ohne jede Beschäftigung herumzuwandern. Ich tu’s nun schon vier Tage. Man hat mir Buch und Brille weggenommen. Aber wenn ich nur einen Bleistift und ein bißchen Papier hätte.« – »Sie sollen doch über Ihre Sünden nachdenken«, sagte er lachend. Dann holte er ein Bleistiftchen aus der Tasche hervor und besah es. »Ich will es noch spitzen und ein Blatt Papier dazutun.«Wirklich brachte er beides gleich darauf. Im gleichen Augenblick war meine Welt ebensostark verändert wie neulich, als die Gefängnistür zuschlug.

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