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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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schleimigeren Beinen krochen und fast noch drückender auf mir lasteten als die des Anfangs. Ich mochte mir hundertmal Unbescheidenheit vorwerfen, ich mochte mich hundertmal trösten, nur noch 80 Stunden, nur noch 79, es half nichts. Ich war oft so zermürbt, daß ich mich elender fühlte als im Beginn.
    Aus der Hölle war ich wohl an meinem Bleistift hochgeklettert – aber doch nicht bis zur richtigen Erde, nur bis zum Limbo. Ich war nur soweit befreit worden, daß ich das Fehlen der ganzen Freiheit stärker empfand als unter der gänzlichen Einschnürung. Waren einige Stunden angefüllter, so gähnten die Pausen zwischen ihnen um so leerer. Ich hatte gehofft, das Bewußtsein, die zweite Hälfte, den bloßen Rest der Strafzeit vor mir zu haben, werde helfen. Es half gar nichts. Nur noch drei Tage, nur noch zwei? Aber das waren ja noch drei, noch zwei Ewigkeiten. Auch mit der Gewöhnung war es nichts, im Gegenteil. Besonders die Länge des Nachmittags dehnte sich von Mal zu Mal schlimmer. Mein altes Thema: Phantasie und Wissen. Weil ich um die Länge dieses Nachmittags weiß, sie im voraus kenne und fürchte, wird er jedesmal grauenvoller.
    Endlich war der Dienstag da. Ich erwachte mit einem Angstgefühl, das sich nicht weglachen ließ und nur immer wuchs. Wenn man mich nicht freigab … Wenn man mich in dem großen Getriebe vergessen, wenn man in den Listen irgendeinen Fehler gemacht hatte! Bis die Subalternen solch einen Fehler ordnungsgemäß richtigstellen – du lieber Gott! Oder wenn ich in die Hände der Gestapo übergehe … Mit meiner J-Karte unterstehe ich ja einem besondern Dezernat. Oder wenn man inzwischen Haussuchung bei uns gehalten hat (die wievielte?), und diesmal hat sich einer für meine Manuskripte interessiert? Nicht fortlachen und nicht wegargumentieren ließ sich diese Angst. Sie war so stark, daß mir der Bleistift gar nichts half. Ich zählte nur immer den Ablauf der Sekunden und Minuten an den vier Schritten ab,ich war zu gar nichts anderem fähig, es war fast schlimmer als der ferne Anfang. Um 11.30 Uhr mußte ich entlassen werden. Ich hörte draußen die Schritte und das Zellenöffnen und -schließen der Mittagsverpflegung. 11.30 Uhr also. Ob ich noch meinen Napf erhalte, ob ich gleich heraus darf? Die Tür wurde einen Spaltbreit geöffnet wie an den andern Tagen, der Napf hereingereicht, die Tür wieder geschlossen, doppelt mit Schlüssel und Haken. Ich brüllte: »Herr Wachtmeister, Herr Wachtmeister!« Gleichmütige Stimme von draußen: »Was ist denn los?« – »Herr Wachtmeister, um 11.30 Uhr werde ich entlassen.« – »Es ist noch lange nicht 11.30 Uhr.« – Der Mann hatte sich nicht entrüstet, nicht verwundert, ich brauchte keine Furcht zu haben, nur noch ein Weilchen warten. Ich aß meinen Brei mit einem Gefühl der Seligkeit. Aber jetzt mußte es wirklich 11.30 Uhr sein, niemand kam, und meine Angst kam wieder und steigerte sich zum heftigen Herzklopfen. Und dann endlich, ich hatte keine Schritte gehört, wieder das Auf des Hakens, das Zurück des Schlosses – ich werde nie mehr gefühllos, klischeehaft »hinter Schloß und Riegel« sagen: »Nehmen Sie Ihr Zeug mit, gehen Sie herunter.« Von diesem Augenblick an war alles für mich wieder und jetzt auch völlig Kino. Wie ich die Hosenträger und die Krawatte zurückerhielt und anlegte, wie ich auf derselben Bank saß wie vor acht Tagen und alles um mich beobachtete, während ich auf den Entlassungsschein wartete. Ich erhielt meinen Schein, die Außentür öffnete sich. Ich trat auf die Straße, sie lag im Sonnenschein. Drüben stand wartend meine Frau.
    Ein paar Tage des absoluten Glücksgefühls. Was war mir der Krieg, was die übliche Unterdrückung? Ich war frei, wir waren zusammen. Ich ließ mich im Judenhaus ein bißchen als eine Art Märtyrer feiern, ich ließ mich ein bißchen pflegen, es tat not, ich war ein wenig eingefallen, und meine Nerven waren nicht ganz in Ordnung. Dann begann ich, meine Stichworte ausbreitend, diese Niederschrift. Je weiter ich darin kam, um so mehr schrumpfte mir mein Erlebnis, mein Erleiden zusammen. Nichts Halbes, ein fürchterlich Ganzes hab ich es wohl im Eingang genannt.Und was war es denn nun, von welchen Qualen hab ich Bericht erstattet? Wie läßt es sich mit dem vergleichen, was heute von Abertausenden in deutschen Gefängnissen erlebt wird? Alltag der Gefangenschaft, mehr nicht, ein wenig Langeweile, mehr nicht. Und doch fühle ich, daß es mir selber eine der schlimmsten Qualen

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