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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Romantik des mittelalterlichen Kerkers wirklichgrausamer war? Vielleicht war sie weniger quälend, weil sie quälerischer war. Stroh und raschelnde Ratten und Spinnen, die man beobachten konnte, es war doch Ablenkung vom Ich, doch Außenwelt und nicht die reine Kahlheit, der abstrakte Zellenraum, die nackte Idee der Gefangenschaft. Ich mußte dieser Vorstellung der Leere entkommen. Die Zelle war ja mein mit allem Notwendigen ausgestattetes Zimmer, ich mußte es nur in allen Einzelheiten studieren. Links auf der Wanderung zum Fenster hatte ich das Bett. Aufgeklappt hing es an der Wand mit zwei Füßen, in Krampen eingehakten Füßen wie eine Fledermaus, der Bettsack, die Wolldecke, das Laken waren über die Kante gebreitet, darüber lehnte das Keilkissen mit den aufschablonierten Buchstaben PPD, Polizeipräsident Dresden. Ich prägte mir die Anordnung genau ein, ich würde sie ja achtmal auseinandernehmen und wiederherstellen. Rechts gegenüber, ebenfalls an der Wand befestigt, ein winziger roher Klapptisch mit einem Bein, eine winzige Bank mit einem Bein. Vor dem Tisch beim Fenster ein kleines Regal, darauf ein brauner Wasserkrug, genauer eine Kaffeekanne, eine braune Waschschüssel, ein brauner irdener Becher, ein halbes Stück Kriegsseife, ein blecherner Löffel, eine Blechbüchse mit Salz, darunter ein Kleiderrechen mit drei Knöpfen, zwei leer, am dritten ein sauberes Handtuch mit den schwarzen Buchstaben PPD. Hinter dem Bänkchen neben der Tür, höchstens zwei Meter vom Eßtisch entfernt, ein Klosett. Dies war die einzige Abweichung von dem meiner Oberfläche bekannten Zellenbild. Eigentlich mußte hier der Eimer stehen, statt dessen war es ein neuzeitlich hygienisches WC. Freilich merkte ich bald auch dem WC gegenüber meine Gefangenschaft: Die Spülung konnte nur von außen her betätigt werden, und sie wurde es morgens und abends. Dazwischen lag der warme Sommertag, die warme Sommernacht, und das Klappfenster war nur mit seiner obere Hälfte geöffnet. Zum mittelalterlichen Verließ gehört stereotyp der pestilenzialische Gestank. Auch in diesem Punkt fehlte das Exaltierende und Betäubende, die Luft ließ sich atmen, sie war nur dumpf und gemein. Was gab es in Zelle 89noch zu sehen? Ich mußte die Leere sorgfältig mit allem anfüllen, das sich irgend bot. Dem Klosett gegenüber an der Tür die drei hohen Rohre der Dampfheizung, genau über der Tür, unter der Decke eine elektrische Birne; sie steckte in einem Gitterkäfig – das war wie ein verkleinertes Abbild, wie ein Symbol meiner selbst und meiner Behausung. Lieber nicht dorthin sehen! Was noch? In die Wand hinter dem Klosett war, sehr schief und ungeschickt, ein Hakenkreuz gekratzt, in den Tisch, sehr regelmäßig und geschickt, ein Sowjetstern gegraben. Par nobile. Noch etwas? Ja, allerhand verwischtes Namengekritzel an den Mauern – ich konnte es ohne Brille nicht entziffern. Und über dem Tisch auf einem Pappkarton die Hausordnung des Polizeigefängnisses – ich konnte sie ohne Brille nicht entziffern. Oder vielleicht doch, sie ließ sich ja abnehmen, ich konnte das Blatt in richtige Stellung bringen, ich konnte mir Zeit lassen; wenn es lange dauerte, um so besser, wenn ich Augenschmerzen bekam von dem verschwimmenden Flirren – ich würde ja die Augen lange genug ausruhen. Das Dechiffrieren muß mir über mehrere Stunden geholfen haben, ich bewegte mich mit dem Blatt hin und her, immer pausierend, immer den günstigsten Lichteinfall suchend, jeden Satz gewissermaßen durch genaues Überdenken streckend. Der erste lautete: »Den Gefangenen ist die Anwendung des deutschen Grußes untersagt.« Dann folgte das Tagesprogramm. Um sechs Uhr Wecken. Bis sieben muß die Zelle gesäubert sein. Morgenverpflegung. Um 11.30 Uhr Mittagsverpflegung, um 5.30 Uhr Abendverpflegung. Das Bett darf nur zwischen neunzehn und sechs Uhr benutzt werden. Dann: Bei der Bewegung im Freien ist jede Unterhaltung verboten. Tröstlich: Ich würde im Freien bewegt werden – eine Unterbrechung, ein Atmen in reinerer Luft. Dann: Anträge an den Hausinspektor sind durch die Aufseher zu stellen. Tröstlich: Ich würde beantragen, daß man mir Brille und Buch freigebe, ich war ja nur in Haft, nicht im Gefängnis, es lag ein Irrtum der Subalternen vor. Beide Hoffnungen haben mich enttäuscht, aber beide haben doch ein Weilchen vorgehalten und so über den Anfang fortgeholfen. Bewegt bin ich die ganzen 192Stunden nicht worden, und einen Antrag über den Aufseher zu stellen war

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