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Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.

Titel: Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Victor Klemperer , Hadwig Klemperer , Walter Nowojski
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Einfluß. Gog aber ist ein sehr angesehener Bürger, der sich bereits Geltung verschafft hat.«
24. Mai, Sonnabend
    Gestern im Abendrundfunk – er kommt um acht, wir hören ihn beim Essen (»Pschorr« vel Tögel, »Monopol« ist unbrauchbar geworden) – Warnung vor Schwarz senden , nicht -hören. Landesverrat, Zuchthaus oder Todesstrafe! Es muß also mancherlei gesendet worden sein, ich denke im Zusammenhang mit Heß. So ist der Witz verbreitet – man spricht auch von angeklebten Zetteln in Löbtau –: »Brauner Wellensittich entflogen. Abzugeben Reichskanzlei.«
27. Mai, Dienstag
    Ich arbeite jetzt in erster Lektüre die Tagebuchblätter Wilna November 18 durch. Wie vieles war mir entfallen, wie ungemein wichtig sind gerade die Einzelheiten solcher Zeit! Um meinesCurriculums willen muß ich auch jetzt notieren, ich muß , so gefährlich es auch ist. Das ist mein Berufsmut. Freilich bringe ich viele Menschen in Gefahr. Aber ich kann ihnen nicht helfen.
14. Juni, Sonnabend
    Wider alles Erwarten ist nun doch vorgestern nach fast drei Monaten mein Gesuch vom 18. 3. abgelehnt worden, und es bleibt bei einer Haft von vollen acht Tagen, die ich am 23. 6. anzutreten habe. Lektüre und Bleistift schreiben soll gestattet sein. Keep smiling – ich bemühe mich.
22. Juni, Sonntag nachmittag
    Das Schlimmste, das Herankommenlassen, ist nun fast vorüber. Morgen.
    Heute gewaltigste Ablenkung. Rußland . Am Morgen kam Kreidl sen. »Es geht los mit Rußland. Fräulein Ludwig (Friedheims Wirtschafterin) hat Goebbels im Rundfunk gehört, ›Verrat Rußlands‹, des jüdisch-bolschewistischen.« Ich ging dann zu Dr. Friedheim hinunter, der mir für die Gefangenschaft »Dichtung und Wahrheit« lieh, ein Päckchen teuren Pfeifentabak als Trost schenkte. Der Mann ist geschwätzig, eitel. Bankdirektor, stolz auf seine Erfolge, über 60 Jahre. »Zu 90 Prozent Nationalsozialist – die 10 Prozent Schlechten aber verderben alles«, Antidemokrat, Monarchist – sonst sehr nett. Glaubt an Hitlers Untergang. Inzwischen ging in der Klinik nebenan das Radio. Eva erfaßte: Um halb eins Wiederholung der Goebbelsrede. Wir fuhren in die Stadt, aßen beim »Pschorr« einen »Stamm«, hörten den Funk, so gut es beim allgemeinen Lärm ging. Die Rede lag auch schon im Extrablatt gedruckt vor, eine gebückte, halbblinde alte Dame reichte sie uns und sagte: »Unser Führer! Das alles hat er allein tragen müssen, um sein Volk nicht zu beunruhigen!« Unser sehr guter, tüchtiger Kellner sagte: »Ich war im Weltkrieg Gefangener in Sibirien.« – »Was meinen Sie nun?« – Zuversichtlich: »Der Krieg wird nun rascher zu Ende gehen.« Was ist Volksstimmung? Immer meine alte Frage. Wie viele denken wiedie Alte und der Kellner? Wie vielen ist es ein Debakel? Wie viele werden sagen, nun sei nach einer Pause von zwei Jahren die jüdisch-bolschewistische Walze wieder aufgelegt? Nun sei der vor drei oder vier Tagen geschlossene Freundschaftsvertrag mit den Türken problematisch?
6. Juli, Sonntag
    Ich versuche, die furchtbare Gefängniswoche, nein acht Tage, 23. 6. bis 1. 7., nach Stichworten in Maschine auszuarbeiten. Seit der Rückkehr am Dienstag erschöpft, benommen, selig, unfähig, etwas zu tun. Vielleicht war dies das Gute an der Leidenszeit, daß wir uns unserer Zusammengehörigkeit, unseres Glücks, der absoluten Unwichtigkeit aller Dinge außerhalb dieses Beisammenseins neu bewußt wurden. Kleine Spaziergänge – ein abendlicher Apfelsaft im »Einnehmerhaus«, abends Plaudern mit Kätchen Sara, das ist alles. Und Wirtschaft natürlich, die mir jetzt nach dem Nichts erfreulich scheint.
Zelle 89, 23. Juni – 1. Juli 1941
    Im Juni kam meine langschwebende Polizeistrafe zur Vollstreckung: Ich hatte geglaubt, es würde wieder etwas Halbes werden wie die meisten meiner Erlebnisse; aber es wurde etwas grauenhaft Ganzes.
    Einen Augenblick lang dachte ich: »Kino«. Eine riesige rechteckige Halle; Glasdach, sechs Galerien mit Glasböden, mit Geländern aus Stahlstangen, Drahtnetze zwischen den einzelnen Stockwerken, wie zum Auffangen eines abstürzenden Trapezkünstlers, aber hinter all der lichten Durchsichtigkeit die gleichförmigen Reihen dunkler Stellen, die klinkenlosen Zellentüren. Ich saß auf einer Bank, ein paar Menschen in Anstaltskleidung neben mir; einer flüsterte mir etwas in fremder Sprache zu. (Hinterher erfuhr ich, daß hier viele Polen untergebracht waren.) In der Mitte der Halle in einem Schalter schrieb ein Beamter unter ständigem

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