Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
eine Gemeinheit!« Schlechter Trost.
9. Oktober, Donnerstag, gegen Abend
60 Jahre. Vieillard. Ich habe nie so recht geglaubt, den Tag zu erleben, seit Berthold und Wally es auf nur 59 gebracht. Ich erlebe ihn in sehr bedrückter Stimmung. In normalen Zeiten wärenmir Ehrungen zuteil geworden, jetzt trage ich den Davidsstern. Und gerade heute ist die Zeitung ein einziges Triumphgeschrei: Der Durchbruch durch die russische Mitte auf Moskau zu sei die eigentliche, wirkliche und völlige Vernichtung der Sowjetrussen.
Ich bin froh, daß dieser Sechzigste zu Ende geht, morgen ist wieder Alltag. Ich will es als günstige Schicksalsfügung, als Stoff für mein Curriculum, als Bereicherung nehmen, daß ich all diese Schmach an Ort und Stelle erlebe.
Was habe ich zwischen Fünfzig und Sechzig geschrieben? Den Corneille, eindreiviertel Bände Dix-huitième, einfünfsechstel Bände Curriculum, 1881– Ostern 1917. C’est bien peu pour un sergeant.
25. Oktober, Sonnabend
Immer erschütterndere Nachrichten über Judenverschickungen nach Polen. Sie müssen fast buchstäblich nackt und bloß hinaus. Tausende aus Berlin nach Lodz (»Litzmannstadt«). Darüber Brief Lissy Meyerhofs. Und viele Erzählungen Kätchen Saras. Gestern grotesk in ihrer sprunghaften Art. Tränen, Herzschwäche und Vergnüglichkeit durcheinander. Ein jüdischer Geburtstagskaffee. Achtzehn Damen.
Wird und wann wird Dresden betroffen? Es schwebt immer über uns. – In Rußland noch immer deutscher Vormarsch, trotzdem der Winter begonnen habe.
27. Oktober, Montag
Die neuesten Schläge: Raucherkarten , nur für Männer, nicht für Juden. Damit sind wir ganz matt gesetzt. Es trifft Eva noch mehr als mich. Ich bin schon seit Wochen an Brombeertee gewöhnt, Zigarillos waren seltene Ausnahme. Sie hat ihre Zigaretten bisher noch immer halb mit Tabak und nur halb mit Tee gestopft. Auch die letzten Päckchen Pfeifentabak gab ich ihr. – Dann, gestern, Sonntag, nachdem mir Eva eben die Haare geschnitten, Schreiben der Jüdischen Gemeinde, die Schreibmaschinen seienMontag und Donnerstag abzuliefern. Erregte Debatten hier, wieweit die Maschine Evas Eigentum sei, wieweit sie Privatbesitz habe, ob wir in Gütertrennung oder -gemeinschaft lebten. Ich lief zu Reichenbachs um juristischen Rat – er arbeitete auf der Gemeinde, sie war tief deprimiert. (Die Verschickungen!) Heute, auf der Gemeinde, sagte mir der louche Estreicher, ich solle wegen der Maschine Antrag stellen, der aber kaum durchgehe.
31. Oktober, Freitag
Die Schreibmaschine wurde schon am Dienstag abgeholt. Das hat mich schwer gekränkt, sie ist kaum ersetzlich. Ich will nun Band II des Curriculum mit der Hand im Brouillon fertigmachen – vielleicht gelingt es bis Neujahr, vielleicht bis zum 12. 2. 42 (am 12. 2. 39 fing ich an) – und dann versuchen, eine Maschine zu leihen. – Es kränkte mich auch, daß Eva wieder meiner Geschäftstüchtigkeit mißtraute und selber noch einmal zur Gemeinde ging, um die Maschine als ihr persönliches und arisches Eigentum zu reklamieren.
1. November
Vorgestern das erstemal leicht angepöbelt. Am Chemnitzer Platz eine Riege Pimpfe. »Ä Jude, ä Jude!« Sie laufen johlend auf das Milchgeschäft zu, in das ich eintrete, ich höre sie noch draußen rufen und lachen. Als ich herauskomme, stehen sie in Reih und Glied. Ich sehe ihren Führer ruhig an, es fällt kein Wort. Nachdem ich vorbei bin, hinter mir, aber nicht laut gerufen, ein, zwei Stimmen: »Ä Jude!« – Ein paar Stunden später beim Gärtner Lange, ich hole Sand für Muschel, ein älterer Arbeiter: »Du, Kamerad, kennst du einen Herrschmann? – Nein? – Der ist auch Jude, Hausmann wie ich – ich wollte dir bloß sagen: Mach dir nichts aus dem Stern, wir sind alle Menschen, und ich kenne so gute Juden.« Solche Tröstung ist auch nicht sehr erfreulich. Welches aber ist nun die wahre Vox populi?
Heute dringende Mahnkarte von Sußmann, er muß Alarmierendes über die Verschickungen gelesen haben, ich solle mich sofortweiter um USA bemühen, er selber könne dahin wirken, daß ich Interimsaufenthalt in Schweden bekäme, »wenn alle Bedingungen für USA erfüllt wären.« Ich schrieb sofort zurück, es sei jetzt jeder Weg verriegelt. Wir hörten tatsächlich von mehreren Seiten, daß eben jetzt deutscherseits absolute Auswanderungssperre verfügt ist. Übrigens würde Jahr und Tag vergehen, ehe die neuen amerikanischen Bedingungen erfüllt wären. Nein, wir müssen hier unser Schicksal abwarten.
18.
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