Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
mehr auf der Elektrischen sehen. Du kannst zu Fuß laufen. Und wenn wir dich noch mal hier treffen, fliegst du heraus. Duweißt schon, wohin. Verstanden?« Ich sagte bloß: »Ja«. Der Duzer ging. Der Hundefänger stand still und düster in einer Ecke. – »Darf ich jetzt gehen?« Er kam mit bis an die Treppe und sagte als Schlußwort: »Und wenn Sie nicht so alt und klapprig wären, würden Sie in Arbeit gesteckt.« Als ich draußen war, merkte ich erst, wie sehr Brust und linker Arm schmerzten. Immerhin, ich war frei (was man hier so nennt, ich hätte ja auch verschwinden können, für lange, Ernst Kreidl sitzt seit siebeneinhalb Wochen, für immer mit Hilfe einer Spritze). Ich ging ganz langsam nach Hause. Ganz erholt bin ich noch immer nicht. Ich habe meine J-Marken am Wasaplatz gemeldet, ich bin seitdem nur ganz wenige Schritte an der Luft gewesen, habe die hiesige Gegend nicht verlassen und werde sie auch nicht mehr verlassen. Die Sache mit ihrer märchenhaften Tyrannei, Brutalität, höhnischen Demütigung hat mich allzuhart angepackt. Ich bin seitdem nicht mehr den Todesgedanken losgeworden.
Nach dem, was ich von Kreidls und Kätchen Sara höre, kommen ähnliche Fälle da und dort vor. Das Ganze soll darauf hinauslaufen, die Leute zum Arbeitsdienst einzufangen. Aber das ginge doch auch über die Gemeinde. Ich denke, man will einschüchtern und von der Straße vertreiben, vielleicht auch Judenfreunde unter den Kaufleuten ausspüren. – Einziger Trost: Der Rückschlag in Rußland läßt sich nicht mehr bemänteln. Paul Kreidl las einen sehr ernsten Artikel aus dem »Reich« vor – mit einem Male sind die eben noch vernichteten Russen furchtbare und ganz unerschöpfte Gegner. Kätchen Sara erzählt, wie ihr ein Fahrer morgens das Herz ausschüttete. Sie solle Mut haben, es gehe mit den Bluthunden bald zu Ende, er kenne die Stimmung der Soldaten, so viele Urlauber führen ja morgens auf seinem Perron, sie wollten nicht mehr mitmachen etc. etc. –
Wer aber kann abschätzen, wie weit die innere Spannung, die äußere Niederlage fortgeschritten sind. Sehr lange kann ich nicht mehr warten. Und das ist wohl die Grundstimmung aller Sternträger.
Es ist sehr kalt geworden, und unsere Heizung kommt wiedernicht gegen den Frost auf, wie im vorigen Winter, und wir sind schlechter genährt und mit den Nerven mehr herunter als im vorigen Winter.
17. Januar, Sonnabend
Seit vorgestern mittag (Donnerstag, 15.1.) schwere Aufregung oder eigentlich Stumpfheit, vermischt mit »Hurra, ich lebe«, das wiederum mit cras tibi und der Frage abwechselt, wer das bessere Teil erwählt. Evakuierung hiesiger Juden am kommenden Mittwoch, ausgenommen, wer über fünfundsechzig, wer das EK I besitzt, wer in Mischehe, auch kinderloser, lebt. Punkt 3 schützt mich – wie lange? (EK-I-Träger gibt es drei oder vier in Dresden). Eine Arbeitskameradin aus dem Goehle-Werk brachte Kätchen die Nachricht. Seitdem fürchterliche Aufregung im Haus, unten Paul Kreidl, hier Kätchen.
Das Curriculum schleicht. Aber ich halte zäh daran fest. Und ich möchte auch gar zu gern der Kulturgeschichtsschreiber der gegenwärtigen Katastrophe werden. Beobachten bis zum letzten, notieren, ohne zu fragen, ob die Ausnutzung der Notizen noch einmal glückt.
Ich habe durchaus den Eindruck, als sei die Lage des 3. Reichs außen- und innenpolitisch explosiv gespannt. Aber vielleicht täusche ich mich, und alles geht noch zwei Jahre weiter.
18. Januar, Sonntag vormittag
Gestern dramatischster Umschwung der Evakuierungssache. Am Nachmittag sickerte die erste Nachricht ins Judenhaus. Es hatte erbitterten Streit zwischen Partei einer-, Werk und Wehrmacht andrerseits gegeben, vielstündige Unterhandlungen, Drohung, das Werk zu schließen, sich an Göring zu wenden, falls die Judenabteilung tangiert werde – schließlich vollster Sieg des Werks: Nicht nur seine gesamte Belegschaft bleibt, sondern wahrscheinlich zieht es auch alle übrigen Juden, die in Dresdener Betrieben arbeiten, an sich, so daß der Transport überhaupt unterbleibt. Damit wäre dann auch Paul Kreidl gerettet. Es sollen sich im Werk die pathetischsten Szenen abgespielt haben.
19. Januar, Montag
Die Machtprobe: Gestapo hat von den Reklamierten des Goehle-Werkes zwanzig gestrichen, sie hat Arbeitseinstellungen von anderen Firmen zu Zeiss-Ikon hinüber sistieren lassen: Im ganzen gehen am Mittwoch doch 250 Leute von hier fort. Unter ihnen Paul Kreidl, schwerster Schlag für die Mutter. Unter ihnen
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