Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933 - 1945.
viele Leute in den Geschäften »Heil Hitler«, wie viele »Guten Tag« sagen. Das »Guten Tag« soll zunehmen. »Beim Bäcker Zscheischler sagten fünf Frauen ›Guten Tag‹, zwei ›Heil Hitler‹.« Hoch. – Beim Ölsner sagten alle »Heil Hitler«. Tief. Gestern Kätchen Sara beglückt. Eine NSV-Schwester sagte ihr an der Tramhaltestelle: »Die Russen haben das Dnjepr-Kraftwerk gesprengt, die Südukraine steht unter Wasser, Tausende von Deutschen sind ersoffen. Das steht nicht in der Zeitung, die schreibt nur von russischen Gefangenen … Der Krieg ist verloren … Ich kenne doch die Stimmung, ich komme herum. Auf Wiedersehen, gnädige Frau.« – »Auf Wiedersehen«, nicht »Heil Hitler« – eine NSV-Schwester! Hoch. Aber dann kommt die Zeitung: Vormarsch »in Richtung Leningrad«. Tief. Usw. usw. –
15. September, Montag
Die Judenbinde, als Davidsstern wahr geworden, tritt am 19. 9. in Kraft. Dazu das Verbot, das Weichbild der Stadt zu verlassen. Frau Kreidl sen. war in Tränen, Frau Voß hatte Herzanfall. Friedheim sagte, dies sei der bisher schlimmste Schlag, schlimmer als die Vermögensabgabe. Ich selber fühle mich zerschlagen, finde keine Fassung. Eva, jetzt gut zu Fuß, will mir alle Besorgungen abnehmen, ich will das Haus nur bei Dunkelheit auf ein paar Minuten verlassen. (Und wenn Schnee und Glatteis kommt? Bis dahin ist das Publikum vielleicht gleichgültig geworden, oder che so io?) Die Zeitung begründet: Nachdem das Heer die Grausamkeit etc. des Juden am Bolschewismus kennengelernt, müsse den Juden hier jede Tarnungsmöglichkeit genommen werden, um den Volksgenossen jede Berührung mit ihnen zu ersparen. – Der wahre Grund: Angst vor jüdischer Kritik, weil es im Osten schlecht steht oder mindestens stockt. Und: Regiment der Terrorleute, Himmlers, weil es im Osten schlecht steht. Wilde Gerüchte: Göring sitze gefangen nach Zwist mit Hitler. – Hitler sei von einem General in den Bauch geschossen. Er habe den General beschimpft, er habe tobend auf dem Teppich gelegen und »die Fransen gefressen«.
18. September, Donnerstag abend
Der »Judenstern« schwarz auf gelbem Stoff, darin mit hebraisierenden Buchstaben »Jude«, auf der linken Brust zu tragen, handtellergroß, gegen 10 Pf uns gestern ausgefolgt, von morgen, 19. 9., ab zu tragen. Der Omnibus darf nicht mehr, die Tram nur auf dem Vorderperron benutzt werden. – Eva wird, wenigstens vorläufig, alles Besorgen übernehmen, ich will nur im Schutz der Dunkelheit ein bißchen Luft schöpfen.
Heute unser letztes gemeinsames Bei-Tage-draußen-Sein. Erst Zigarettenjagd, dann mit der Tram (Sitzplatz!) nach Loschwitz über die Hängebrücke, von dort am rechten Ufer unten am Fluß stadtwärts bis zum Waldschlößchen. Diesen Weg sind wir in 21 Jahren nie gegangen. Die Elbe sehr angefüllt, breit, stillund stark strömend, viel Nebeldunst, die Parkgärten hinter den hohen Mauern herbstlich in Blätterfall und Blumen. Eine erste Kastanie fiel uns platzend zu Füßen. Es war wie ein letzter Ausgang, ein letztes bißchen Freiheit vor langer (wie langer?) Gefangenschaft. Dasselbe Gefühl, als wir im »Löwenbräu« in der Moritzstraße aßen.
Wenn ein Hausbewohner hier zum andern kommt, klingelt er dreimal. Das ist so ausgemacht, damit niemand erschrickt. Einfaches Klingeln könnte ja Polizei sein.
20. September, Sonnabend
Gestern, als Eva den Judenstern annähte, tobsüchtiger Verzweiflungsanfall bei mir. Auch Evas Nerven zu Ende. Sie ist blaß, hat ein eingefallenes Gesicht. (Wir ließen uns vorgestern nach Jahren einmal wiegen. Eva in leichter Kleidung 56 Kilogramm, drei weniger als im Kohlrübenwinter 1917 – ihr gutes Gewicht war 70 Kilogramm. Ich immer noch 67 Kilogramm – es waren früher 75.) Ich sagte mir, ich müsse mich verhalten wie nach dem Autounfall: gleich wieder ans Steuer! Gestern nur bei völliger Dunkelheit nach dem Abendessen ein paar Schritte mit Eva. Heute um mittag ging ich wirklich zum Kaufmann Ölsner am Wasaplatz und holte Selters. Es kostete mich furchtbare Überwindung. Inzwischen ist Eva immerfort auf Besorgungswegen und beim Kochen. Unser ganzes Leben ist umgewälzt, und alles lastet auf Eva. Wie lange werden es ihre Füße aushalten? – Sie besuchte Frau Kronheim. Die fuhr gestern mit der Tram – Vorderperron. Der Fahrer: Warum sie nicht im Wagen sitze. Frau Kronheim ist klein, schmächtig, gebückt, ganz weißhaarig. Es sei ihr als Jüdin verboten. Der Fahrer schlug mit der Faust auf das Schaltbrett: »Solch
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