Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon

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Anlasser führte, und er bückte sich unter das Lenkrad und versuchte, sich zu konzentrieren. Noch einmal wischte er sich mit dem Handrücken über die Augen und trocknete ihn sich anschließend am T-Shirt ab.
    Früher oder später hätte es sowieso enden müssen. Es war schon unglaublich, dass er es überhaupt geschafft hatte, Ryan zu überzeugen, und mit der Zeit wären bestimmt Zweifel aufgekommen, Fragen, die er nicht hätte beantworten können. Wahrscheinlich hätte Ryan früher oder später weiterziehen wollen, sich vielleicht sogar wieder bei seinen Eltern melden wollen, was völlig okay war, was ganz natürlich war, man konnte schließlich nicht erwarten, dass solche Dinge ewig hielten.
    Ja. Er holte sein Taschenmesser heraus und schälte vorsichtig die Isolierung von den Kabelenden ab. Eine sehr heikle Prozedur. Man wollte sich schließlich keinen Schlag holen; man durfte die blanken Drähte nicht berühren.
    Er runzelte die Stirn, konzentrierte sich, und dann gab’s einen winzigen Funken, und das Auto rüttelte sich wach. Zu neuem Leben.

    Könnte es etwas Wundersameres geben als ein wirkliches, wahrhaftiges Gespenst?
    Er fuhr auf der I-75 in südlicher Richtung, war knapp hinter Flint, als ihm das einfiel.
    Ein Zitat.
    Er war vor langem darauf gestoßen, damals während dieses entsetzlichen Semesters in Yale. Thomas Carlyle, der viktorianische schottische Essayist, grimmig und grantig und bärtig und ihm nicht einmal sonderlich sympathisch: Aber er hatte sich die Passage eingeprägt, weil sie ihm so schön und so wahr zu sein und so weit über das Fassungsvermögen der übrigen Kursteilnehmer zu liegen schien.
    Der Engländer Johnson, hatte Carlyle geschrieben, habe sich sein Leben lang danach gesehnt, ein Gespenst zu sehen. «Schaffte es aber nicht, obwohl er zur Cock Lane ging und von da weiter in die Kirchenkrypten und Särge abklopfte. Närrischer Doktor! Blickte er niemals, mit dem Auge des Verstandes ebenso wie mit dem des Leibes, um sich in jenen Gezeitenstrom von menschlichem Leben, das er so sehr liebte? Ja blickte er nie auch nur in sich selbst hinein? Der gute Doktor war ein Gespenst, so wirklich und wahrhaftig, wie das Herz es nur begehren könnte; nahezu eine Million Gespenster bevölkerten die Straßen rings um ihn. Noch einmal sage ich – fege hinweg die Illusion der Zeit; verdichte die sechzig Jahre Menschenleben zu drei Minuten; was anderes war er, was anderes sind wir? Sind wir nicht alle Geister, zu einem Leib gestaltet, einer Erscheinung; und vergehen diese nicht wieder zu Luft und Unsichtbarkeit?»
    Er fuhr gerade unter einer Brücke durch und rezitierte diese Passage laut, und er weinte nicht wirklich, obwohl seine Augen ein bisschen nässten, geblendet vom Licht der Scheinwerfer hinter ihm und den grellen reflektierenden Kreisen der Katzenaugen am Straßenrand und einem grünen Interstate-Schild mit der Aufschrift:

    RICHTUNG COLUMBUS

    «Sind wir nicht alle Geister?»
    Er fragte sich, was Miles zu dieser Vorstellung zu sagen gehabt hätte.
    Er hatte schon seit einer Weile nicht mehr mit Miles gesprochen, seit die Sache mit Rachel schiefgegangen war, seit diesem missglückten Trip nach North Dakota, und er war neugierig. Vielleicht konnte er Miles einfach einen Brief schreiben, vielleicht konnte er Miles zur Gedenkstätte schicken, die er sich selbst auf Banks Island errichtet hatte. Idem mutatus resurgo : «Verändert, erstehe ich als dieselbe wieder.» Was Miles vielleicht verstehen würde. Vielleicht konnte Miles dann die nächste Ebene betreten und sich ebenfalls transformieren. Endlich sein eigenes Leben leben.
    Natürlich würde er dazu Miles irgendwie nach Kanada locken müssen, aber bei Miles war so was nicht sonderlich schwierig. Der arme Miles: so zwanghaft und hartnäckig.
    Er hatte vor kurzem etwas über das sogenannte Vanishing Twin Syndrome gelesen, das Miles mit Sicherheit interessiert hätte. Laut einem Artikel, den er gelesen hatte, beginnt einer von acht Menschen sein Leben als Zwilling, aber nur einer von siebzig wird dann tatsächlich als Zwilling geboren . In den meisten Fällen wird der «verschwindende Zwilling» entweder spontan abgestoßen, oder er wird vom Geschwister, der Plazenta oder der Mutter selbst absorbiert.

    Als er die Grenze von Michigan nach Ohio überquerte, weinte er wieder, dachte dabei vermutlich an Ryan, obwohl er wusste, dass es falsch war.
    Er hatte eine ungewöhnlich große Ernte an Leben erbracht, das jedenfalls hatte man