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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Ahnung, was wirklich in seinem Kopf vorging?
    Abgesehen davon, konnte sie nicht aufhören, an das zu denken, was er über das Geld gesagt hatte. Verhandlungsprobleme , hatte er gesagt. Wir müssen möglicherweise einen viel größeren Anteil abgeben . Was sie beunruhigte. Sie hatte mit diesem Geld gerechnet, vielleicht sogar mehr, als sie auf George Orson gezählt hatte, und jetzt tastete sie automatisch ihren Rucksack ab, fühlte durch die Leinwand die Bündel von Banknoten, die sie mit ein paar zusammengefalteten Brooke-Fremden-T-Shirts abgedeckt hatte.
    Es war früher Nachmittag, und es trafen erheblich mehr neue Gäste im Hotel Ivoire ein, als es noch am Vortag der Fall gewesen war. Da war eine Reihe von Afrikanern, manche in Anzügen, andere traditioneller gekleidet. Ein paar Militärs, zwei Araber in bestickten Kurtas, eine Französin mit Sonnenbrille und breitkrempigem Hut, die sich übers Handy mit jemandem herumstritt. Livrierte Hotelangestellte folgten verschiedenen Gästen.
    Sie hätte nicht allein in die Lobby runterfahren dürfen, auch wenn ihr das in dem Moment wie ein Akt trotziger Selbstbehauptung erschienen war. Während George Orson in einem schnellen und unverständlichen Französisch ins Telefon gesprochen hatte, hatte sie ärgerlich gepackt, und als sie mit ihrem Koffer fertig gewesen war, hatte sie dagestanden und versucht, in groben Zügen zu verstehen, was er sagte – bis er ihr einen scharfen Blick zugeworfen und die Sprechmuschel mit der Hand abgedeckt hatte.
    «Fahr schon mal runter in die Lobby», sagte er. «Ich muss nur noch dieses Gespräch zu Ende führen und bin in fünf Minuten unten, also verschwind nicht.»
    Aber inzwischen waren schon fast fünfzehn Minuten vergangen, und er war immer noch nicht aufgetaucht.
    Konnte es sein, dass er sie sitzenlassen wollte?
    Sie tastete wieder ihren Rucksack ab, als könnte ihr das Geld irgendwie weggezaubert werden, als sei es nicht vollständig real, und sie war versucht, den Reißverschluss aufzuziehen und noch einmal nachzuschauen – nur zur Sicherheit. Nur um es zu sehen.
    Noch einmal ließ sie den Blick durch die Lobby schweifen, hinauf zur kathedralenartigen Decke und dem Kronleuchter und über die langen dekorativen Kästen voll tropischer Pflanzen. Die Französin hatte sich eine Zigarette angezündet und klopfte mit der Spitze ihres hochhackigen Schuhs dezent auf den Fußboden. Lucy sah, dass die Frau einen Blick auf ihre Armbanduhr warf, und nach kurzem Zögern ging sie auf sie zu.
    « Excusez-moi », sagte sie, wobei sie den Versuch unternahm, den Akzent nachzuahmen, den Mme. Fournier in grauer Vergangenheit ihren Schülerinnen und Schülern einzutrichtern versucht hatte. « Quelle … », sagte Lucy. « Quelle … heure est-il? »
    Die Frau sah sie mit überraschendem Wohlwollen an. Ihre Augen begegneten sich, und die Frau nahm das Handy vom Ohr und musterte Lucy mit einem sanften, mütterlichen Blick von oben bis unten. Mitleidig, dachte Lucy.
    «Es ist drei, meine Liebe», erwiderte die Frau auf Englisch und lächelte Lucy fragend an.
    «Ist mit Ihnen alles in Ordnung?», fragte die Frau, und Lucy nickte.
    « Merci », sagte Lucy mit belegter Stimme.
    Sie wartete schon fast eine halbe Stunde auf ihn. Jetzt drehte sie sich um und machte sich auf den Weg zu den Fahrstühlen, während ihr Trolley-Koffer hinter ihr herschlenkerte, die schönen zehenfreien Sandalen, die sie sich gekauft hatte, auf den leuchtenden Marmorfliesen klackten, die Leute eine Gasse vor ihr zu bilden schienen und die afrikanischen und levantinischen und europäischen Gesichter sie dabei mit der gleichen misstrauischen Anteilnahme beäugten, die die Französin gezeigt hatte – dem Blick, mit dem die Leute ein Mädchen ansehen, das sich wie eine Idiotin benommen hat, ein Mädchen, das weiß, dass es sitzengelassen worden ist. Du kannst von Glück sagen, dass ich nicht ohne dich gegangen bin , dachte sie, und als die Fahrstuhltür mit einem tiefen melodischen Glockenton aufglitt, spürte Lucy, wie die Panik in ihr aufwallte. Kein Gefühl in den Fingern, Insektenkribbeln auf der Kopfhaut, die Kehle wie zugeschnürt.
    Nein. Er würde sie nicht sitzenlassen, er würde sie nicht wirklich sitzenlassen, nicht nach alldem. Nicht nachdem sie einen so weiten Weg miteinander zurückgelegt hatten.
    Sie spürte, wie der Fahrstuhl zu steigen begann, und es war so, als ob die Schwerkraft wie ein Geist aus ihrem Körper emporstiege, es war so, als könnte sie wie eine

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