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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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er zu Rachel genau dasselbe gesagt, damals in Inuvik, wo sie sich für Wissenschaftler ausgegeben hatten, und das war nicht besonders gut ausgegangen.
     
    Diesmal aber schaffte er es, Wort zu halten.
    Ryan war in der Notaufnahme, und auch wenn zweifellos eine mehrstündige OP und Bluttransfusionen und so weiter nötig sein würden, würde es fast mit Sicherheit gut ausgehen.
    Es war kurz vor sechs, ein Donnerstagmorgen Anfang Mai, die Sonne war noch nicht aufgegangen, und er saß im von Leuchtstoffröhren erhellten Wartebereich auf einem Plastikstuhl neben den Verkaufsautomaten, auf den Knien Ryans blutbespritztes Kapuzenshirt und Ryans Brieftasche mit dem neuesten Führerschein. Max Wimberley. Er holte das gefaltete Geldbündel aus seiner Jackentasche und steckte ein paar Hunderter in das Geldscheinfach von Ryans Brieftasche.
    Herr Jesus , dachte er, und er legte das Gesicht für eine Weile in die Hände – ohne zu weinen, ohne zu weinen –, bevor er schließlich einen Fetzen Papier hervorkramte und etwas aufschrieb.
     
    Es war wahrscheinlich am besten so.
    Er saß in einem alten Chrysler, den er unabgeschlossen auf dem Parkplatz gefunden hatte, und jetzt weinte er ein bisschen, zerstreut, während er die Plastikabdeckung unter der Lenksäule abmontierte.
    Er war ein guter Vater gewesen, sagte er sich. Er und Ryan hatten, solange es gutgegangen war, ein schönes Leben miteinander geführt; sie hatten sich, was wichtig war, sehr nahe gestanden, sie hatten eine Beziehung aufgebaut, eine enge Beziehung, und auch wenn die Sache früher – und auf tragischere Weise – zu Ende gegangen war, als er erwartet hatte, war er ein besserer Dad gewesen, als der echte Jay es jemals gewesen wäre.
    Als er an Jay dachte, verspürte er etwas wie – was? – leichte Gewissensbisse; aber auch nicht direkt. Während der ganzen Zeit, die sie zusammen verbracht hatten, damals, bevor er nach Missouri gegangen war, während der ganzen Zeit hatte er nichts getan als Jay zugeredet, mit seinem Sohn Kontakt aufzunehmen. «Es ist wichtig», hatte er immer wieder zu Jay gesagt. «Familie ist wichtig; er sollte erfahren, wer sein richtiger Vater ist; sonst ist sein Leben eine einzige Lüge», und Jay hatte ihn regelmäßig mit diesem ironischen Kifferblick, den er draufhatte, angesehen, als wollte er sagen: Machst du Witze?
    In Wirklichkeit war es aber so, dass Jay sich einfach nie dazu aufraffen konnte, weil er faul war. Weil er nicht bereit war, die nötige emotionale Energie zu investieren, weil er nicht bereit war, Verantwortung für einen anderen Menschen zu übernehmen – und das war auch der Grund, warum er kein guter Hochstapler war. Hayden hatte sich alle Mühe gegeben, ihm etwas beizubringen, aber letztlich war Jay einfach nicht gut genug. Er machte so viele Fehler, so viele Fehler – Gott! Ryan eignete sich um so viel besser für den Lebensstil des Untergangs als sein Vater –
    Bei Jay hatte es dagegen einfach nur einen Patzer nach dem anderen gegeben, selbst mit einem perfekten Avatar wie Brandon Orson, und obwohl schon alles – in Lettland und China und der Elfenbeinküste – perfekt vorbereitet gewesen war. Und deswegen war Hayden, als Jay von dieser unseligen Reise nach Rēzekne nicht zurückgekehrt war, nicht besonders überrascht gewesen.
    Allerdings hatte es ihm leidgetan, dass Jays armer Sohn nie die Wahrheit erfahren würde, er war – tja, neugierig auf diesen Sohn gewesen, selbst während dieser Periode als Miles Spady, damals an der University of Missouri, selbst noch als er und Rachel in dieser gottverlassenen Forschungsstation festsaßen, sich zankten und depressiv wurden, selbst dann hatte er immer wieder an Jay Kozeleks lange verlorenen Sohn denken müssen, und als es mit Rachel schiefgelaufen war und er endlich in die Staaten zurückgekehrt war und in einem Motelzimmer in North Dakota saß, hatte er gedacht –
    Was, wenn ich an Jays Stelle mit seinem Sohn Kontakt aufnehmen würde? Was, wenn ich für Jay das täte, wozu er selbst nicht imstande war? Würde ich ihm nicht gewissermaßen einen Gefallen tun, würde ich nicht etwas zu seinem ehrenden Andenken tun?
    Tja.
    Tja, wie Miles sagen würde.
    Er saß im unabgeschlossenen Chrysler auf dem Parkplatz der Notaufnahme und dachte über diese Dinge nach, und schließlich beugte er sich vor und musterte die Kabel, die in das Lenkradschloss liefen, und entwirrte sie, bis er das rote fand. Normalerweise lieferte das rote den Strom, während das braune zum

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