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Identität (German Edition)

Identität (German Edition)

Titel: Identität (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Chaon
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Springkrautschote aufplatzen und Hunderte von schwebenden Samen aus sich entlassen, die dann unwiederbringlich verwehen würden. Sie dachte an den Moment, als die Polizisten auf ihrer Veranda gestanden hatten, sie die Tür geöffnet und sich ihren steinernen Mienen gegenübergesehen hatte; an den Moment, als sie das Zulassungsbüro von Harvard angerufen hatte, dieses Gefühl der Loslösung, dieses Gefühl, dass ihr künftiges Ich, die Moleküle ihres vorgestellten Lebens, losgerissen, zu immer kleineren und kleineren Partikeln zerfielen und sich immer weiter und weiter und weiter verstreuten, wie das Weltall selbst.
    Als der Aufzug endlich den vierzehnten Stock erreichte, dachte sie für eine Sekunde, die Tür würde sich nicht öffnen, und sie drückte auf den Knopf mit dem «Tür öffnen»-Symbol. Sie drückte noch einmal und fuhr, mit zitternden Fingern, mit dem Handballen über die Nahtstelle, an der die Türflügel wie zusammengeschweißt aneinanderstießen. «Oh», sagte sie dabei, «oh», sagte sie, bis die Türflügel sich unvermittelt teilten, aufglitten und sie fast auf den Korridor hinausgestolpert wäre.
     
    Im Nachhinein war sie froh, dass sie nicht seinen Namen gerufen hatte.
    Die Stimme hatte sie verlassen, und sie hielt vor dem Fahrstuhl inne und konnte nur mit Mühe atmen, die Luft strömte ihr mit weichen unregelmäßigen Rucken in die Lungen, und ihre Hände kratzten fahrig an der Leinwand ihres Rucksacks, tasteten nach den festen Banknotenbündeln, so wie sich ein Passagier in einem abstürzenden Flugzeug an seine Sauerstoffmaske klammern mag, und dann, als sie die Gewissheit dieser Geldscheinpacken spürte, kramte sie hektisch in ihrer neuen Handtasche und fand ihren Reisepass, Kelli Gavins Reisepass. Der war ebenfalls da, und da war auch die Bestätigungsnummer für ihren Flug nach Rom, und sie … sie …
    Die Geschwindigkeit ihres Absturzes schien sich zu verlangsamen.
    Ja, so fühlte es sich an, sich zu verlieren. Noch einmal. Seine Zukunft loszulassen und sie immer höher und höher aufsteigen zu lassen, bis man sie schließlich nicht mehr sehen konnte und man wusste, dass man wieder von vorn anfangen musste.
     
    Im Nachhinein begriff sie, dass sie Glück gehabt hatte.
    Glück, dass sie sich bemüht hatte, möglichst nicht aufzufallen, sich bemüht hatte, sich zusammenzureißen, Glück, dass sie vor dem Fahrstuhl stehengeblieben war, um ihre Tasche noch einmal abzutasten, Glück, weil diese eiskalte Ruhe auf sie herabgestoßen war und sie mit ihren Klauen gepackt hatte.
    Glück, dass sie keine Aufmerksamkeit erregt hatte, denn als sie um die Ecke bog, stand ein Mann vor ihrem Hotelzimmer.
    Wie ein Wachposten, vor der Tür von Zimmer 1441, im Turm des Hotels Ivoire.
    Um sie abzufangen? Oder lediglich um George Orson den Fluchtweg zu versperren?
    Es war einer dieser Russen, die sie im Restaurant gesehen hatte, der mit der orangefarbenen Igelfrisur, der ihr zugerufen hatte: Ich bin guter Liebhaber.
    Er stand mit dem Rücken an der Tür, die Arme verschränkt, und sie erstarrte dort am Rand des Korridors. Sie konnte die Pistole sehen, den Revolver, den er locker, fast schläfrig in der linken Hand hielt.
    Er sah nicht gefährlich aus, nicht direkt, obwohl sie wusste, dass er es war. Er würde sie wahrscheinlich töten, wenn er sie sähe und die Verbindung herstellte, aber er schaute nicht in ihre Richtung. Es war so, als sei sie unsichtbar, und er lächelte in sich hinein, als kostete er eine angenehme Erinnerung aus, die Augen auf die Decke gerichtet, auf die Lampe, um die ein weißer Falter kreiste. Gebannt.
     
    Die zwei anderen Männer, nahm sie an, waren schon im Zimmer, im Zimmer bei George Orson.

26
    «WIR SIND AUF DEM WEG ins Krankenhaus», sagte er zu Ryan. «Hör mir zu, mein Sohn. Du wirst nicht verbluten.» Er wiederholte es und wiederholte es, noch lange nachdem Ryan das Bewusstsein wieder verloren hatte, murmelte es einfach vor sich hin, so wie er sich früher, als Junge, auf dem Dachboden Geschichten erzählt hatte, er erinnerte sich an das Gefühl, im Bett hin und her zu schaukeln und sich immer wieder dieselben Sätze vorzusagen, bis er endlich einschlief.
    «Ich versprech dir, dass du wieder gesund wirst», sagte er, während die Scheinwerfer das Gewirr von Zweigen erleuchtete, die die langen Landstraßen überwölbten. «Ich versprech dir, dass du wieder gesund wirst. Wir sind auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich versprech dir, dass du wieder gesund wirst.»
    Natürlich hatte

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