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Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Idyllen in der Halbnatur (German Edition)

Titel: Idyllen in der Halbnatur (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm Genazino
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Angestellten bevölkern täglich die Straßen Berlins, und doch ist ihr Leben unbekannter als das der primitiven Völkerstämme, deren Sitten die Angestellten in den Filmen bewundern (…) Hinter die Exotik des Alltags kommen auch die radikalen Intellektuellen nicht leicht. Und die Angestellten selber? Sie am allerwenigsten haben das Bewusstsein ihrer Situation.« Einflussreich wurde eine Rezension der Kracauer-Studie durch Walter Benjamin; darin stellte Benjamin fest: »Es gibt heute keine Klasse, deren Denken und Fühlen der konkreten Wirklichkeit ihres Alltags entfremdeter wäre als die Angestellten. Mit anderen Worten aber will das heißen: Die Anpassung an die menschenunwürdige Seite der heutigen Ordnung ist beim Angestellten weiter gediehen als beim Lohnarbeiter.« Beide Befunde – sowohl der von Kracauer als auch der von Benjamin – haben ihre Gültigkeit bis heute nicht verloren.
    Die Motti der »Abschaffel«-Romane sind aber auch ein ängstlicher Verweis auf die literarischen Bürgen, derer ich mich damals meinte versichern zu müssen. Ich glaubte seinerzeit, ohne Bezug auf die gültigen Vorbilder keinen Boden unter den Füßen zu haben. Auch in einer anderen, etwas versteckteren Hinsicht war ich diesen (und anderen) Gewährsleuten der literarischen Tradition verpflichtet. Ich meine die Legende vom ersten Satz. Nach allgemeiner, in den siebziger Jahren kaum bezweifelter Ansicht wurde ein literarischer Roman von einem starken ersten Satz eingeleitet. Der erste Satz ist (war, damals) eine Art Stoß, der den Raum öffnet für den nachfolgenden Roman. Ich nenne ein Beispiel aus der Zeit, als ich an den »Abschaffel«-Romanen arbeitete und den Roman »Der Fremde« von Albert Camus las. Dieser Roman beginnt mit dem Satz »Heute ist Mama gestorben«. Das ist (in seiner lapidaren Einfalt) gewiss eine heftige Roman-Eröffnung. Und doch ist der erste Satz in diesem Fall nur eine Vorlage für den zweiten. Dieser lautet so: »Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.« Erst der Zusammenklang des ersten und zweiten Satzes bringt den starken ersten Auftritt des Romans zustande: »Heute ist Mama gestorben. Vielleicht auch gestern, ich weiß es nicht.« Das Beispiel von Camus war damals eine Art Parameter für die Wirksamkeit des ersten (und, in diesem Fall) des zweiten Satzes. Es herrschte damals die Meinung vor, dass im ersten Satz der ganze Roman wie (die Metapher, die jetzt folgt, war seinerzeit so gebräuchlich wie die Ideologie vom ersten Satz selbst) in einer »Nussschale« aufleuchtet. Die Ideologie von der Überwältigung durch den ersten Satz war über Jahrzehnte hin wirksam, obwohl es zu gleicher Zeit schon Gegenbeispiele gab. Von den Gegenbeispielen nenne ich nur den ersten Satz von Kafkas Roman »Das Schloss«. Er lautet: »Es war spät abends, als K. ankam.« Das ist unspektakulär, ohne jede Verheißung. Man kann nicht behaupten, dass man nach diesem ersten Satz mit dem ungeheuerlichen Roman rechnen könnte, der danach beginnt. Genau darauf lief die Effizienz-Ideologie des ersten Satzes hinaus: Schon hinter der schieren Nichtigkeit des ersten Satzes sollte die Ungeheuerlichkeit eines unfassbaren Geschehens aufleuchten.
    Ähnlich unscheinbar wie Kafka ist der erste Satz, mit dem Robert Walser seinen Roman »Geschwister Tanner« beginnen lässt: »Eines Morgens trat ein junger, knabenhafter Mann bei einem Buchhändler ein und bat, dass man ihn dem Prinzipal vorstellen möge.« Auch dieser erste Satz verrät nichts außer dem Zufall eines Anfangs, den man sich austauschbarer kaum denken kann. Ich nenne noch ein drittes Beispiel aus jüngerer Zeit. Imre Kertész’ »Roman eines Schicksallosen« fängt mit diesem Satz an: »Heute war ich nicht in der Schule.« Man fragt sich nicht ohne Bangigkeit, ob man sich nach diesem ersten Satz ernsthaft für das interessieren soll, was danach kommt. Alle drei Beispiele sind willkürlich aus einer riesigen Auswahl herausgegriffen. Alle laufen auf etwas hinaus, was man vielleicht den Beiläufigkeitston nennen kann. Es handelt sich um fast unliterarische Sätze, für deren Zustandekommen der literarische Kosmos eines Schriftstellerkopfes nicht nötig scheint. Der Beiläufigkeitston hätte (so könnte man annehmen) eigentlich ausreichen müssen, die Ideologie vom wirkungsvollen ersten Satz endgültig vom Thron zu stürzen. Daraus ist jedoch nichts geworden. Trotz und neben dem Beiläufigkeitston hat sich der alte Typus des wirkungsmächtigen Nussschalen-Satzes erhalten.

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