Linda Lael Miller
Prolog
Vor
nicht allzu langer Zeit
und nicht sehr fern ...
Es war
etwas Magisches an
diesem Ort. Es war beinahe so, als wäre er verzaubert.
Das Kind
Megan stand ein wenig abseits von seinen Internatsgefährtinnen und vergaß für
einen Moment seine Einsamkeit, als es die prachtvolle Puppe an sich drückte und
fasziniert zu einer Öffnung in der Mauer der Abtei aufschaute. Niemand sonst
schien zu bemerken, daß es in diesem Mauerspalt blau, golden und silbern
schimmerte und er eine eigenartige, lautlose Musik ausströmte.
Während
Megan zusah, begannen sich aus dem Nichts heraus die verrosteten Eisenstäbe
eines Tors zu formen. Hinter ihr plapperten die anderen Schülerinnen, froh, den
hohen Mauern von Briarbook School für die Dauer eines Nachmittags entronnen zu
sein, und gleichgültig gegenüber allem anderen außer dieser kurzen Pause
zwischen ihren Studien.
Megan trat
einen Schritt näher an das Tor heran, weil sie sich auf unerklärliche Weise von
ihm angezogen fühlte, obwohl sie sich eigentlich hätte fürchten müssen. Unwillkürlich
drückte sie die Puppe noch fester an ihre Brust, als sie auf das Tor zuging.
In diesem
Augenblick erschien eine Märchenprinzessin auf der anderen Seite des Tors,
lächelnd und winkend. Sie war wunderschön in ihrem langen, saphirblauen Kleid
und hatte goldenes Haar, das ihr in schimmernden Wellen auf die Hüften fiel.
Ihre Haut war auffallend blaß, ihre Augen hatten die gleiche Farbe wie ihr
Kleid.
»Megan«,
sagte die Dame mit einer sanften, melodischen Stimme, die das Kind an die
Glöckchen auf der Veranda ihres Nachbarn im fernen Amerika erinnerte.
Obwohl sie
erst fünf Jahre alt war, war Megan klug genug, um
zu wissen, daß sie nicht mit Fremden sprechen durfte, und deshalb schaute sie
sich fragend nach ihren Lehrerinnen um. Doch wie üblich beachtete sie niemand,
und wie schon so oft kam sie sich vor, als sei sie unsichtbar.
Die Puppe
im Arm, die ihr einziger Besitz war außer ihrer Schuluniform, ihren Büchern und
einem Koffer Freizeitkleidung aus ihrem alten Leben in Amerika, näherte sie
sich dem Tor.
Die Dame
bückte sich, und ihr langes Kleid bauschte sich um ihre Füße, als sie die
blassen Hände um die eisernen Gitterstäbe legte. Wieder sagte sie etwas, aber
ihre Worte klangen fremd wie eine andere Sprache, und Megan runzelte verwirrt
die Stirn.
»Ich darf
nicht mit Fremden sprechen«, sagte sie, mehr zu der Puppe in ihren Armen als zu
der Prinzessin. Die Puppe war eigentlich kein Spielzeug, sondern eine exquisite
Nachbildung Königin. Elizabeths I. von England, die auch Gloriana genannt
wurde. Zumindest hatte die Verkäuferin in der Spielzeugabteilung bei Harrods
das gesagt, als Megans Eltern die Puppe für sie kauften, als ob sie ihr damit
zu verstehen geben wollten, wie leid es ihnen täte, sie zu verlassen.
Was natürlich
nicht der Fall war. Sie hatten es kaum erwarten können, Megan loszuwerden und
getrennter Wege zu gehen, und sie hatten kein Geheimnis daraus gemacht.
Da sie sich
scheiden lassen würden, ihre Mommy und ihr Daddy, hatten sie Papiere im Büro
der Schuldirektorin unterzeichnet, bevor sie abgereist waren. Eins der älteren
Mädchen in Briarbook behauptete, Megan sei jetzt eine Waise, weil ihre Mommy
für immer nach Amerika zurückgekehrt war. Erica Fairfield-Saunders war die
Alleinerbin eines riesigen Vermögens, und Megans Vater, ein geborener
Engländer, der es vorzog, Jordan genannt zu werden, selbst von seiner eigenen
Tochter, wollte endlich wieder > ungebunden < sein. Er hatte schließlich
seine Karriere in der Londoner Theaterwelt zu bedenken.
Und dazu
hatte er einen ansehnlichen Batzen von Ericas Vermögen.
Irgendwo
war auch Geld für Megan hinterlegt, aber das war ihre geringste Sorge, denn
schließlich war sie erst fünf Jahre alt.
Sie war in
üppiger Verwahrlosung aufgewachsen, und so vermißte Megan weder Erica noch
Jordan sonderlich, aber sie wußte, daß andere Mädchen und Jungen von ihren
Müttern und Vätern geliebt und verhätschelt wurden, und wäre gern wie jene
Kinder gewesen. Um ein Heim zu haben und ein Gefühl der Zugehörigkeit.
»Hab keine
Angst«, sagte die Dame, und Megan merkte verwundert, daß sie ihre Worte nun
verstand.
»Ich habe
keine Angst«, erwiderte sie, verwirrt, jedoch noch immer ohne Furcht. »Woher
wissen Sie, wie ich heiße?«
»Durch
Zauberei.« Das war eine Antwort, die von Megan bereitwillig akzeptiert wurde.
Sie war viel allein gewesen, bevor sie nach England kam, und hatte in
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