Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
amerikanischer Kollege Bartleby von Herman Melville. Außer ihm selbst erfährt praktisch niemand, dass er quersteht zu seinem Berufsalltag und zur Melancholie von dessen Ausweglosigkeit. Als Beispiel für die Auswirkungen der melancholischen Renitenz nenne ich Abschaffels Weigerung, an den Feierabend-Aktivitäten seiner Kollegen teilzunehmen. Er macht keine Kegelabende mit und mokiert sich über gemeinsame Geburtstagsfeiern von Kollegen. Als zweites Beispiel nenne ich seinen Verzicht auf Urlaub. »Er fühlte sich zu stolz dazu«, heißt es zu dieser Frage im zweiten Band, »mit irgendwelchen Personen an irgendwelchen Stränden zu liegen, aber er wurde seiner Distanz nicht froh.« Diese fast unfreiwillige Distanz ist ein interessanter, gewiss auch dunkler Punkt in seiner Psyche. Zur Erläuterung heißt es im Roman: »Die anderen machten einfach alles, was ein Mensch machen konnte; sie heirateten, machten Kinder, fuhren in Urlaub, feierten Weihnachten (…) Und wie schäbig, künstlich und erbarmungswürdig auch alles sein mochte, es gefiel ihnen. Es gefiel ihnen sogar so sehr, dass es zum Programm ihres Lebens wurde.« Abschaffel hat keine besseren Ideen oder Angebote als die von ihm kritisierten Kollegen. Er verharrt in seinen Vorbehalten, er verharrt im Verzicht, beinahe hätte ich gesagt: er verharrt im Verharren. Diese Haltung macht ihn komplex, schwer durchschaubar, auch schwer deutbar, natürlich auch einsam, weil kaum vergleichbar. Ich will an dieser Stelle einräumen, dass ich damals, Mitte der siebziger Jahre, als ich die »Abschaffel«-Romane schrieb, stark beeinflusst war von den Denkweisen der Autoren der Frankfurter Schule, insbesondere von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer. Ich las deren Bücher nicht als Student, sondern als junger Autor und Zeitungsredakteur, der für seine gesellschaftlichen Erfahrungen eine Art theoretisches Feedback suchte. Kaum ein Denker war dafür mehr geeignet als Adorno. Natürlich stellte Abschaffels Geschick auch die Frage nach seiner gesellschaftlichen Positionierung. Mir fällt kein Theoretiker ein, der das Individuum heftiger in Frage stellte als Adorno. Das Zeitalter des Individuums war für ihn deswegen zu Ende, weil es sich – schuldbeladen, wie es war – aus seinen politischen Verstrickungen der Vergangenheit nicht mehr zu lösen vermochte – und weil es, erst recht in den westlichen Nachkriegsgesellschaften, in Zukunft nur noch als konsumistische Verfügungsmasse starker wirtschaftlicher Interessen gelten konnte. Für Adorno war ausgemacht, dass das Individuum »nur deshalb zugrunde geht, weil seine Freiheit die ganze Geschichte hindurch misslang«; mehr noch – so lesen wir in der »Minima Moralia«: »Dass das Individuum mit Haut und Haaren liquidiert werde, ist noch zu optimistisch gedacht«. In späteren Jahren konnte ich diesen Urteilen nicht mehr zustimmen, aber in den siebziger und achtziger Jahren spiegelten sie mein eigenes Denken und auch meine eigene gesellschaftliche Erfahrung. Mit Abschaffel teilte ich die autobiografische Kränkung, dass mich nichts anderes als mein schulisches Scheitern zu hundert Prozent dafür geeignet machte, in den Massenbetrieb des tertiären Bereichs eingegliedert zu werden. Die Infamie des gesellschaftlichen Schicksals bestand gerade darin, dass das Schulversagen der Menschen als kalkuliert und gesellschaftlich gewollt erschien, weil sie nur als Versager in die mittleren bis unteren Systemschichten eingegliedert werden konnten. Das Verhältnis zwischen schulischem Versagen und späterer gesellschaftlicher Positionierung habe ich in einem späteren Roman noch einmal aufgegriffen. Das Buch heißt »Eine Frau, eine Wohnung, ein Roman« und erschien zuerst 2003. Der Roman ist meiner eigenen biografischen Vorgabe deshalb erheblich näher als die »Abschaffel«-Trilogie, weil der Protagonist genau das tut, was ich selbst in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auch getan habe: Er ist kaufmännischer Lehrling, empfindet sich in dieser Rolle jedoch stark unterfordert – und erfindet für sich eine Art Kompensation, die ihm erlaubt, sich trotz und neben seiner Lehrlingstätigkeit in verheißungsvolleren gesellschaftlichen Zusammenhängen zu erleben. Er wird Berichterstatter für mehrere Lokalzeitungen. Praktisch sieht diese Nebenbeschäftigung so aus, dass er für die Zeitungen Abendtermine wahrnimmt und die Berichte über die von ihm besuchten Veranstaltungen am nächsten Tag frühmorgens, noch vor dem Frühstück, oder
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