Idyllen in der Halbnatur (German Edition)
Schwindler lügt sich phasenweise in eine andere Welt. Es ist eine Art Hochstapelei des Redens, die im Kern niemanden betrügt und auch keinen Schaden anrichtet. Nur der Lügner blüht momentweise auf, weil er sein Leben redend zurechtrückt. Es hat einen tiefen Grund, warum das Lügen von Psychoanalytikern neutralisierend »phantasieren« genannt wird. In dem Wort phantasieren steckt die Anerkennung der Sehnsucht, dass viele Menschen konventionelle Lebenslauf-Schemata hinter sich zurücklassen wollen, wenigstens phasenweise; es ist bedrückend, dass wir eine einzige, unverrückbare Biografie hervorbringen, der wir dann auch noch einen Sinn unterlegen müssen. Gegen die Übermacht des Biografischen hilft oft nur das Anfabulieren gegen das Schicksal. Wie wir uns das Lügen als Notausgang vorstellen können, hat uns der verständige Aufklärer Michel de Montaigne (in seinem Essay »Von den Lügnern«) so erklärt: »Es ist eine schwierige Kunst, eine Rede aufzuhalten oder zu unterbrechen, wenn man einmal unterwegs ist (…) Unter den Einsichtigen sogar sehe ich solche, die ihren Schwall aufhalten möchten und nicht können (…) Und wenn man der Zunge einmal diese falsche Gewöhnung gegeben hat, ist es zum Erstaunen, wie aussichtslos es ist, sie wieder davon abbringen zu wollen. So kommt es denn, dass wir im Übrigen rechtschaffene Menschen diesem Laster unterworfen und hörig sehen.«
Das Lügen und Lügen-Müssen ist so sehr in das Reden dieser Menschen eingesunken, dass die Lüge als Lüge auch für sie selbst nicht mehr kenntlich ist. Der innere Kampf gegen die Gewalt der Biografie (und, mehr noch, gegen das Scheitern eines bestimmten Biografie-Entwurfs) wird dann zum Hauptschauplatz des Redens überhaupt. Um das Scheitern einer Biografie anzunehmen, müssten diese Menschen trauern können, und trauern wollen sie nicht können. Das Trauern gilt in unseren Breitengraden als Niederlage, und als Verlierer will niemand dastehen. In dieser Lage ist Lügen allemal billiger als trauern. Ich gedenke an dieser Stelle der vielen Menschen, die unbedingt Künstler haben werden wollen und es immer noch werden möchten, obwohl die gefürchtete Realität (und das fortgeschrittene Lebensalter) diese Möglichkeit nicht mehr zulässt. Diese Menschen leben völlig »normal« als Angestellte, Mütter, Lehrer, Ehefrauen, Ärzte, Juristen, Beamte. Sobald sie aber zu reden anfangen, tritt eine seltsame Verzerrung ans Tageslicht, eine schmerzliche innere Verbiegung, die man natürlich als unauthentisch, neurotisch oder als krank bezeichnen kann – wenn man denn ein sicheres moralisches Fundament für derartige Urteile hat. Es klingt immer gut, sich für das Ende des Lügens auszusprechen. Es kostet nichts und ist hoffnungslos realitätsfern. Der Mensch ist auf diesem Gebiet zu sehr mit seinen Fehlern verschwistert. In Wahrheit behandeln sich die Dauerlügner, indem sie lügen, mit der einzigen Selbsttherapie, die für ihr Leiden angemessen ist. Der sich frei entfaltende Lügenzwang ist natürlich nicht hilfreich im Sinne einer Aufhebung des Zwangs. Es hilft nur als Leidensminderung derjenigen, die sich nur im lügenden Reden eine Satisfaktion verschaffen können. Max Frisch, der ein paar wichtige Texte über das Umlügen von Lebensläufen geschrieben hat, bemerkt in den Anmerkungen zu seinem Theaterstück »Biografie«: »Es wird gespielt, was ja nur im Spiel überhaupt möglich ist: wie es anders hätte verlaufen können in einem Leben.«
Das ist der Punkt. Insofern sollte man, denke ich, Alltagslügner als Spieler begreifen, die die kritische Einstellung zu sich selbst verloren haben. Nur im Lügen übersteigen sie ihren Schmerz und das »bösartige Ressentiment gegen die Wirklichkeit« (Natalia Ginzburg). Die Dauerlügner tun so, als hätten sich ihre Wünsche heimlich erfüllt. Nur in dieser Umlügung des Lebens ist noch eine Art von Glück zu haben. Auch Baron Münchhausen, einen fürchterlichen Aufschneider und Lügner, müssen wir uns als glücklichen Menschen vorstellen.
Nachweise
Der verlorene Schuh erschien unter der Überschrift »Verstoßen« zuerst in der Zeitschrift Folio der Neuen Zürcher Zeitung; Nr. 11/2007.
Von der Bruchbudenhaftigkeit des Schönen . Erstdruck in: Akzente, Zeitschrift für Literatur, München; Nr. 3/2005.
Der Ungehorsam gegen die Tatsachen . Zuerst in: Akzente, Zeitschrift für Literatur, München; Nr. 1/2008.
Die Bamberger Vorlesungen Melancholische Renitenz (I) wurden am 18. Juni
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