Ihr wahrer Name
sie hörte, ich sei in der Stadt, ist sie sofort zu mir ins Hotel gekommen, mutig wie alle Tallmadges, die wissen, daß ihnen ihr Platz im Universum sicher ist und nicht weggenommen werden kann.
»Sie ist sehr hübsch«, sagtest du, Victoria. »Dr. Tallmadge hat sie zu mir ins Hotel gebracht, damit ich sie kennenlernen kann. Sie möchte dich wiedersehen, mehr über dich erfahren.«
»Sie sieht aus wie Sofie«, flüsterte ich. »Wie Sofie im Alter von siebzehn Jahren, als sie mit mir schwanger war. Ich habe ihr Bild verloren. Ich wollte sie bei mir haben. Aber ich habe sie verloren.«
Ich sah dich nicht an, dein besorgtes, mitfühlendes Gesicht; ich wollte nicht, daß du oder irgend jemand sonst mich so hilflos erlebte. Ich biß so heftig auf meine Lippe, daß ich den salzigen Geschmack des Blutes im Mund spürte. Als du meine Hand berührtest, schlug ich sie weg. Aber als ich den Blick senkte, lag das Foto meiner Mutter auf dem Boden neben mir.
»Das hast du zwischen den Mitteilungsblättern vom Royal Free auf deinem Schreibtisch gelassen«, sagtest du. »Ich dachte, vielleicht willst du es. Niemand ist ganz verloren, wenn man die Erinnerung an ihn in seinem Herzen trägt. Deine Mutter, deine Oma, deine hohe - glaubst du nicht, daß du, egal, was mit ihnen passiert ist, ihre Freude warst? Du bist gerettet worden. Das wußten sie, diesen Trost hatten sie.«
Ich vergrub meine Finger im Boden, packte die Wurzeln des Unkrauts, auf dem ich saß. Immer wieder verließ sie mich. Meine Mutter kam zurück und verließ mich, kam zurück und verließ mich, und irgendwann verließ sie mich endgültig. Ich weiß, daß ich diejenige bin, die gegangen ist; sie haben mich weggeschickt, mich gerettet, aber mir kam es so vor, als habe sie mich wieder verlassen, und diesmal kehrte sie nicht mehr zurück.
Tja, und dann habe ich das gleiche getan. Wenn jemand mich liebte, wie damals Carl, ging ich. Ich habe meinen Sohn verlassen. Selbst jetzt habe ich Max, dich - Victoria -, Chicago verlassen. Alle, die mir wichtig sind, sollen die gleiche Einsamkeit spüren wie ich. Es ist nicht schlimm, daß mein Sohn meinen Anblick nicht ertragen kann, denn schließlich habe ich ihn im Stich gelassen. Auch Carls Bitterkeit verletzt mich nicht, denn ich habe sie verdient, sie gewollt. Egal, was er jetzt sagt, wenn ich ihm die Wahrheit eröffne, daß er all die Jahre einen Sohn hatte, egal, wie sehr er mich beschimpft, ich habe es verdient.
»Niemand verdient diesen Schmerz«, sagtest du. »Du am allerwenigsten. Wie kann ich dir böse sein? Dein Kummer quält mich. Genau wie Max. Ich weiß nicht, wie das bei Carl ist, aber Max und ich haben keinerlei Recht, dich zu verurteilen. Wir sind deine Freunde. Deine hohe hat der kleinen neunjährigen Lotty, die sich da allein auf den Weg machte, bestimmt verziehen. Kannst du dir jetzt nicht auch selbst verzeihen?«
Der Herbsthimmel war schon dunkel, als der junge Polizist verlegen den Strahl seiner Taschenlampe auf uns richtete; er wolle uns nicht stören, sagte er in stockendem Englisch, aber wir sollten gehen; es sei kalt und ziemlich dunkel auf diesem Hügel.
Ich ließ mir von dir auf die Beine helfen. Und ich ließ mir von dir auf dem dunklen Weg zurückhelfen.
Dank
Danke dem Wolfson College in Oxford, wo ich als Gast 1997 Recherchen im Archiv durchführen konnte. Danke auch Dr. Jeremy Black vom Wolfson College, der mir den Aufenthalt dort ermöglichte.
Das Brief- und Tonbandarchiv des Imperial War Museum in London ist eine wichtige Quelle der Information über den Kindertransport, Englands großzügige Aufnahme von zehntausend jüdischen Kindern aus Mitteleuropa in den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg. Wie die Bibliothekare überall auf der Welt waren auch die im Imperial War Museum unglaublich hilfsbereit. Sie ließen mich sogar einmal an einem Tag, an dem eigentlich geschlossen war und ich einen Termin verwechselt hatte, ins Archiv.
Das Royal Free Hospital in London hat mir ebenfalls Einblick in sein Archiv gewährt und mir gestattet, Lotty Herschel ihre Ausbildung dort absolvieren zu lassen. Auch ansonsten hat man mir dort immer geholfen.
Dr. Dulcie Reed, Dr. Lettice Bowen, Dr. Peter Scheuer und Dr. Judith Levy, die alle etwa zu der Zeit wie Lotty Herschel ihre Arztausbildung in Großbritannien machten, haben mir bereitwillig Auskunft über jenen Abschnitt ihres Lebens gegeben.
Ich habe es vermieden, das Archivmaterial und die Erinnerungen der vier genannten Ärzte einfach eins
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