Ihr wahrer Name
lediglich den Tod von Rudolph und Anna Herschel im Jahr 1943 bestätigen. Man verwies sie des weiteren auf verschiedene Datenbanken, die nach Holocaust-Opfern suchten und sich vielleicht als nützlich erweisen würden. Ihre Korrespondenz mit diesen Datenbanken zeigte, daß keine von ihnen für sie relevante Informationen hatte.
Außerdem hatte Lotty einen Stapel Mitteilungsblätter des Royal Free Hospital in London zurückgelassen, wo sie ihre Ausbildung zur Ärztin absolviert hatte. Ich überflog die Seiten. Zwischen zwei von ihnen steckte ein Foto. Es handelte sich um ein altes Bild, die Ecken vom vielen Anfassen schon ganz verbogen, auf dem eine sehr junge blonde Frau zu sehen war, deren Augen sogar auf dem verblichenen Papier vor Leben sprühten. Ihre Haare waren im Stil der zwanziger Jahre zu einem Bob geschnitten und gelockt. Sie lächelte mit dem herausfordernden Selbstbewußtsein eines Menschen, der weiß, daß man ihn liebt und daß seine Wünsche fast immer erfüllt werden. Es stand etwas auf der Rückseite, aber auf deutsch und in der alten Schrift, die ich nicht entziffern konnte.
Ich reichte das Bild Max, der es stirnrunzelnd betrachtete. »Ich kann die alte deutsche Schrift nicht sonderlich gut lesen, aber das Foto ist jemand namens >Martin< gewidmet. Es ist eine Liebesbotschaft von - ich glaube, das heißt >Lingerl< - aus dem Jahre 1928. Und darunter steht, an Lotty gerichtet: Denk an mich, liebste kleine Charlotte Anna, und sei Dir gewiß, daß ich immer an Dich denke.«
»Wer ist das? Könnte es Dr. Herschels Mutter sein?« Mrs. Coltrain nahm das Foto vorsichtig an den Ecken. »Was für ein hübsches Mädchen sie damals war, als das Bild gemacht wurde. Dr. Herschel sollte es rahmen lassen und auf ihren Schreibtisch stellen.« »Vielleicht wäre es zu schmerzhaft für sie, das Gesicht jeden Tag zu sehen«, sagte Max mit schleppender Stimme.
Ich wandte mich den Mitteilungsblättern zu. Sie waren wie alle solche Publikationen voll mit kurzen Informationen über ehemalige Studenten, herausragende Leistungen der Fakultät, die Situation des Krankenhauses, besonders angesichts der starken Budgetkürzungen im Rahmen des schrumpfenden Gesundheitsetats. Im dritten Mitteilungsblatt stach mir der Name »Ciaire Tallmadge« ins Auge:
Ciaire Tallmadge, MRCP, hat ihre Praxis aufgegeben und ist in eine Wohnung in Highgate gezogen, wo sie Besuch von früheren Studenten und Kollegen empfängt. Dr. Tallmadges Berufsethos hat ihr die Hochachtung von Generationen von Kollegen und Studenten des Royal Free eingebracht. Wir alle werden ihre aufrechte Gestalt im Tweedkostüm in den Stationen vermissen, aber das in ihrem Namen eingerichtete Forschungsstipendium wird die Erinnerung an sie noch lange wachhalten. Dr. Tallmadge hat vor, eine Geschichte von Frauen zu verfassen, die im zwanzigsten Jahrhundert Karriere in der Medizin gemacht haben.
Lotty Herschels Geschichte: Der lange Weg zurück
Als ich den Hügel erreicht hatte, konnte ich nicht mehr weitergehen. Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen. Plötzlich bekam ich weiche Knie und mußte mich setzen, um nicht hinzufallen. Danach blieb ich sitzen, wo ich gelandet war, ließ den Blick über das graue, windgebeutelte Land schweifen, die Knie bis zur Brust angezogen.
Als ich merkte, daß ich das Foto meiner Mutter zurückgelassen hatte, war ich verzweifelt gewesen. Ich hatte meine Koffer mindestens ein dutzendmal durchsucht und dann in den Hotels angerufen, in denen ich gewesen war. »Nein, Dr. Herschel, wir haben es nicht gefunden. Ja, wir können verstehen, wie wichtig es Ihnen ist.« Doch auch dann mochte ich mich nicht mit dem Verlust abfinden. Ich wollte sie bei mir haben. Ich wollte, daß sie mich auf meiner Reise nach Osten beschützte, genau wie sie mich auf meiner Reise nach Westen beschützt hatte. Als ich ihr Bild nicht finden konnte, hätte ich fast auf dem Flughafen Wien-Schwechat kehrtgemacht. Aber zu diesem Zeitpunkt hatte ich schon nicht mehr gewußt, wohin ich zurückkehren sollte.
Ich lief zwei Tage lang in der Stadt herum und versuchte hinter der strahlend modernen Fassade die Straßen meiner Kindheit zu entdecken. Als einziges erkannte ich das Haus in der Renngasse wieder, aber als ich klingelte, begrüßte mich die Frau, die jetzt dort wohnte, mit Verachtung und Feindseligkeit. Sie weigerte sich, mich hineinzulassen: Da konnte ja jeder daherkommen und behaupten, er hätte als Kind in der Wohnung gelebt. Auf Schwindler würde sie nicht
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