Ihr wahrer Name
Lotty Berschels Geschichte: Arbeitsmoral
Die Kälte in jenem Winter fraß sich in unsere Knochen. Das kannst du dir nicht vorstellen, denn du lebst in einer Zeit, in der du nur die Heizung aufzudrehen brauchst, um es so warm zu haben, wie du möchtest, aber damals in England war der einzige Brennstoff Kohle, und in jenem zweiten Winter nach dem Krieg herrschte schrecklicher Mangel. Wie alle hatte ich Six-penny-Münzen für die elektrische Heizung in meinem Zimmer gesammelt, aber selbst wenn ich es mir hätte leisten können, sie die ganze Nacht laufen zu lassen, hätte sie nicht viel Wärme gespendet. Eine der Frauen in meiner Unterkunft bekam eine Bahn Fallschirmseide von ihrem Bruder, der bei der britischen Luftwaffe gewesen war, und wir machten uns daran, Mieder und Schlüpfer daraus zu schneidern. Damals konnten wir alle noch stricken; ich trennte alte Pullover auf, um Schals und Westen zu machen - neue Wolle kostete seinerzeit ein Vermögen.
In der Wochenschau sahen wir, daß amerikanische Schiffe und Flugzeuge den Deutschen alles brachten, was sie brauchten. Während wir uns in Decken und Pullover wickelten und Graubrot mit Butterersatz aßen, machten wir bittere Scherze darüber, daß es falsch gewesen war, die Amerikaner zum Kriegseintritt zu bewegen, um den Ausgang der Auseinandersetzungen für uns zu entscheiden - wären wir die Verlierer gewesen, hätten sie uns besser behandelt, sagte die Frau, die die Fallschirmseide von ihrem Bruder bekommen hatte.
Ich hatte meine Ausbildung zur Ärztin begonnen und konnte deshalb nicht viel Zeit im warmen Bett verbringen. Außerdem war ich froh, daß ich jeden Tag ins Krankenhaus gehen konnte, obwohl es dort auch nicht warm war: Patienten und Schwestern drängten sich um den großen Ofen in der Mitte der Station, tranken Tee und erzählten Geschichten. Wir Studenten beneideten sie um ihre Kameradschaft. Die Schwestern erwarteten professionelles Verhalten von uns Medizinstudenten - oder besser gesagt: Sie hatten Freude daran, uns herumzukommandieren. Wir machten unsere Runden mit zwei Paar Strumpfhosen übereinander und hofften, daß die Fachärzte unsere Handschuhe nicht bemerkten, wenn wir ihnen von Bett zu Bett folgten und über Symptome aufgeklärt wurden, die in vielen Fällen Mangelerscheinungen waren. Sechzehn bis achtzehn Stunden Arbeit am Tag ohne richtiges Essen forderten ihren Tribut von uns allen. Viele meiner Mitstudenten erkrankten an Tuberkulose und bekamen deshalb frei - nur bei einer solchen Erkrankung erlaubte es das Krankenhaus, daß wir die Ausbildung unterbrachen und hinterher wieder aufnahmen, auch wenn bei manchen die Genesung länger als ein Jahr dauerte. Allmählich begannen sich die neuen Antibiotika durchzusetzen, aber sie kosteten ein Vermögen und waren noch nicht überall erhältlich. Als es auch mich erwischte und ich zu meiner Vorgesetzten gehen und ihr erklären mußte, daß ein Freund meiner Familie ein Cottage in Somerset habe, wo ich mich erholen könne, nickte sie nur düster, denn in meinem Kurs waren bereits fünf Studenten erkrankt. Trotzdem erledigte sie die nötigen Formalitäten für mich und trug mir auf, ihr einmal monatlich zu schreiben. Gleichzeitig drückte sie ihre Hoffnung aus, mich vor Ablauf eines Jahres wiederzusehen.
Ich blieb acht Monate weg. Eigentlich hatte ich früher zurückkehren wollen - ich sehnte mich danach, endlich wieder dazusein -, aber Ciaire - Ciaire Tallmadge, die seinerzeit bereits Medizinalassistentin war und eine Stelle als Fachärztin so gut wie sicher in der Tasche hatte -überzeugte mich, daß ich noch zu schwach sei.
Meine Rückkehr ins Royal Free empfand ich als höchste Freude. Die Routine im Krankenhaus, meine Studien - all das war wie Balsam für mich, es trug zu meiner Heilung bei. Eines Tages rief meine Vorgesetzte mich sogar zu sich ins Büro, um mir zu sagen, daß ich mich nicht überanstrengen solle; es sei nicht im Interesse der Klinik, wenn ich einen Rückfall erlitte. Sie begriff nicht, daß die Arbeit meine einzige Rettung war, ja, vielleicht schon so etwas wie eine zweite Haut. Das Vergessen, das einem harte Arbeit schenken kann, ist ein Rauschmittel. »Arbeit macht frei«, so lautete eine jener fast schon obszönen Parolen, die die Nazis sich ausdachten, aber kann sie einen möglicherweise sogar betäuben? Über dem Eingang all ihrer Lager befanden sich solche und ähnliche Slogans wie aus Orwells 1984; über dem von Auschwitz hing der obenerwähnte. Natürlich handelte es
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