Illuminati
hatte, der ihn aufgezogen und aufgenommen hatte, als er von der Armee zurückgekehrt war. Jetzt erst verstand Vittoria den Rest der Geschichte. Es war jener Kardinal, Carlo Ventrescas Ziehvater, der später zum Papst gewählt worden war und seinen jungen Zögling mitgebracht hatte, damit er ihm als Camerlengo diente.
Das erklärt eine ganze Menge, dachte Vittoria. Sie hatte stets ein feines Gespür für die Emotionen anderer Menschen besessen, und irgendetwas am Camerlengo hatte sie den ganzen Tag beschäftigt. Er war von einer Trauer erfüllt, die weit größer, überwältigender zu sein schien als die Krise, vor der nun der ganze Vatikan stand. Hinter seiner frommen Ruhe hatte Vittoria einen Mann gesehen, der von ganz eigenen Dämonen gequält wurde. Nun wusste Vittoria, dass ihre Instinkte sie nicht getäuscht hatten. Nicht nur, dass Camerlengo Carlo Ventresca der schlimmsten Bedrohung in der Geschichte des Vatikans gegenüberstand, er hatte auch noch seinen Mentor und Freund verloren… er war der einsamste Mensch auf der Welt.
Die Gardisten gingen nun langsamer, als wüssten sie nicht genau, wo in der Dunkelheit der letzte Papst beigesetzt war. Der Camerlengo übernahm die Führung und blieb vor einem Marmorsarkophag stehen, der heller glänzte als die übrigen. Auf dem Deckel lag eine Statue des Toten. Vittoria erkannte das Gesicht – sie hatte es oft im Fernsehen gesehen, und plötzlich erfasste sie Furcht. Was tun wir hier?
»Mir ist bewusst, dass uns nicht viel Zeit bleibt«, sagte der Camerlengo. »Trotzdem bitte ich Sie, dass wir einen Augenblick im Gebet verharren.«
Die Schweizergardisten senkten die Köpfe und rührten sich nicht. Vittoria folgte ihrem Beispiel. Ihr Herz hämmerte wild in der Stille. Der Camerlengo kniete vor dem Sarkophag nieder und betete auf Italienisch. Vittoria lauschte seinen Worten, und plötzlich drohte Trauer sie zu übermannen. Sie dachte an ihren eigenen Mentor… ihren eigenen Heiligen Vater. Tränen stiegen ihr in die Augen. Die Worte des Camerlengos waren für ihren Vater genauso passend wie für den toten Papst.
»Verehrter Vater, Ratgeber, Freund.« Die Stimme des Camerlengos erklang leise in der Dunkelheit. »Als ich jung war, habt Ihr mir gesagt, dass die Stimme, die ich in meinem Herzen höre, die Stimme Gottes sei. Ihr habt mir gesagt, ich müsste ihr folgen, ganz gleich, wie schmerzvoll es sei, was diese Stimme von mir verlange. Ich höre diese Stimme auch jetzt, und sie verlangt Unmögliches von mir. Gebt mir die Kraft, Vater, und verzeiht mir, was ich tun muss. Was ich nun tue… tue ich im Namen von allem, an was Ihr geglaubt habt. Amen.«
»Amen«, flüsterten die Gardisten.
Amen, Vater. Vittoria wischte sich die Tränen ab.
Der Camerlengo erhob sich langsam und trat vom Sarkophag
zurück. »Schieben Sie den Deckel zur Seite.«
Die Schweizergardisten zögerten. »Monsignore«, sagte einer von ihnen. »Das Gesetz sagt, dass wir unter Ihrem Befehl stehen, aber…« Er zögerte. »Wir werden tun, was Sie von uns verlangen.«
Der Camerlengo schien die Gedanken des jungen Mannes zu lesen. »Eines Tages werde ich Sie um Vergebung bitten, weil ich Sie in diese Lage gebracht habe. Heute verlange ich Ihren Gehorsam. Die Vatikanischen Gesetze dienen dem Schutz der Kirche, und genau aus diesem Grund erteile ich Ihnen nun den Befehl, diese Gesetze zu brechen.«
Nach einem Augenblick des Schweigens gab der führende Gardist den Befehl an seine beiden Kameraden weiter. Die drei Männer legten ihre Lampen zu Boden, und ihre Schatten tanzten über Decke und Wände. Die Männer traten zum Sarkophag, legten die Hände an den Deckel und stemmten die Füße in den Boden. Auf ein Zeichen hin schoben alle drei mit ganzer Kraft, doch der gewaltige Deckel bewegte sich nicht. Vittoria hoffte beinahe, der Deckel würde sich als zu schwer erweisen. Sie fürchtete sich vor dem, was sie darunter entdecken könnten.
Die Männer drückten und drückten, doch der Deckel gab nicht nach.
»Ancora!«, befahl der Camerlengo, krempelte die Ärmel seines Gewands hoch und stellte sich zu den Gardisten, um ihnen zu helfen. »Oral« Alle drückten.
Vittoria wollte sich gerade erbieten, ebenfalls zu helfen, als der Deckel endlich nachgab. Die Männer drückten erneut, und mit einem rauen Knirschen von Stein auf Stein drehte sich der Deckel auf dem Sarkophag und kam in schiefer Stellung zur Ruhe, mit dem gemeißelten Kopf des Papstes tief in der Nische und den Füßen auf dem Gang.
Die
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