Illuminati
einem verwackelten Bild von den Geschehnissen auf der Treppe des Petersdoms. Wohin Langdon auch schaute, überall erblickte er die reglose Gestalt des Camerlengos in Großaufnahme.
Das ist nicht recht, dachte Langdon. Er wollte die Treppe hinunterrennen und einschreiten, doch er konnte nicht. Außerdem hätte es nichts genützt. Ob es nun am Lärm lag, den die Menge verursachte, oder an der kühlen nächtlichen Luft – in diesem Augenblick geschah das Unfassbare.
Wie ein Mann, der aus einem Albtraum aufschreckt, riss der Camerlengo die Augen auf und setzte sich kerzengerade hin. Völlig überrascht bemühten sich Langdon und die anderen, das unruhige Gewicht zu balancieren. Das Kopfende des Tisches kippte. Der Camerlengo begann zu rutschen. Sie versuchten, den Fall abzufangen, indem sie den Tisch hastig abstellten, doch es war bereits zu spät. Der Camerlengo rutschte vom Tisch. Unglaublicherweise fiel er nicht zu Boden. Seine Füße berührten den Marmor, und er stand schwankend da. Einen Augenblick schaute er desorientiert in die Runde, dann stolperte er vor, die Treppe hinunter und in Richtung von Chinita Macri, bevor irgendjemand ihn daran hindern konnte.
»Nein!«, rief Langdon.
Leutnant Chartrand rannte hinterher und versuchte den Camerlengo aufzuhalten, doch der Geistliche wandte sich mit wilden Blicken zu dem Gardisten um und fauchte: »Lassen Sie mich!«
Chartrand zuckte zurück.
Es wurde noch schlimmer. Das zerrissene Gewand des
Camerlengos, das die Wachen nur lose über seine Wunde auf der Brust gelegt hatten, begann zu rutschen. Einen Augenblick lang hoffte Langdon, dass es halten würde, doch dieser Augenblick verging. Das Gewand rutschte von Ventrescas Schultern auf die Hüften.
Das Ächzen der Menge schien in Sekundenschnelle einmal um den Globus zu gehen. Kameras wurden geschwenkt, und ein Blitzlichtgewitter brach los. Auf den Videoschirmen war die gebrandmarkte Brust des Camerlengos in Großaufnahme zu sehen, jedes schauerliche Detail. Einige Sender hielten das Bild an und drehten es um hundertachtzig Grad.
Der ultimative Sieg der Illuminati.
Langdon starrte auf das Brandzeichen auf den Schirmen. Es war der Abdruck des Eisens, das er wenige Minuten zuvor in der Hand gehalten hatte, doch erst jetzt ergab es einen Sinn. Unmissverständlich. Die furchtbare Bedeutung des Brandmals traf Langdon wie ein Vorschlaghammer.
Orientierung. Langdon hatte die erste Grundregel der Symbolologie vergessen. Wann ist ein Quadrat kein Quadrat? Außerdem hatte er vergessen, dass Brandeisen genau wie Stempel niemals wie ihre Abdrucke aussahen. Sie waren spiegelverkehrt. Langdon hatte auf das Negativ des Brandzeichens gestarrt, als er das Eisen in der Hand gehalten hatte!
Das Chaos auf dem Platz wurde unbeschreiblich, und ein altes Zitat der Illuminati erhielt mit einem Mal eine neue Bedeutung: Ein makelloser Diamant, geboren aus den Elementen und von solcher Perfektion, dass jeder, der ihn sieht, vor Staunen und Ehrfurcht erstarrt.
In diesem Augenblick wusste Langdon, dass der Mythos der Wahrheit entsprach.
Erde, Luft, Feuer, Wasser. Der Illuminati-Diamant.
117.
Langdon zweifelte nicht einen Augenblick daran, dass die Hysterie und das Chaos auf dem Petersplatz alles überstiegen, was der Vatikanhügel jemals erlebt hatte. Keine Schlacht, keine Kreuzigung, keine Pilgerfahrt, keine mystische Vision – nichts in der zweitausendjährigen Geschichte des heiligen Ortes war mit dem Drama zu vergleichen, das sich in diesen Momenten abspielte.
Während die Tragödie ihren Lauf nahm, fühlte sich Langdon seltsam losgelöst, als schwebe er neben Vittoria oben über den Stufen zum Petersdom. Der Lauf der Zeit selbst schien sich zu verlangsamen, und der ganze Wahnsinn spielte sich in Zeitlupe ab…
Der gebrandmarkte Camerlengo in seinem Fieberwahn… für alle Welt zu sehen…
Der Illuminati-Diamant… in seiner ganzen diabolischen Genialität…
Der Countdown, der die letzten zwanzig Minuten in der vatikanischen Geschichte einläutete…
Doch das Drama hatte gerade erst begonnen.
Der Camerlengo schien mit einem Mal von neuer Kraft beseelt, besessen von Dämonen oder in einer Art posttraumatischer Trance. Er begann zu reden, zu unsichtbaren Geistern zu flüstern, während er zum Himmel schaute und die Arme zu Gott erhob.
»Sprich!«, rief er zum Himmel hinauf. »Ja! Ich höre dich!«
Plötzlich verstand Langdon. Es war ein weiterer, beinahe unerträglicher Schock.
Vittoria ging es allem Anschein
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