Der Atem der Angst (German Edition)
1 . LEONIE
Das kleine Mädchen öffnete die Augen. Um sie herum war es schwarz. Es war einfach nichts zu sehen. Kein bisschen. Nichts.
Sie saß, die Knie angezogen. Unter ihr war es hart. An ihrem Rücken spürte sie Bretter. Rechts von ihr waren Bretter. Links von ihr waren Bretter. Sie konnte das splittrige Holz mit den Händen spüren. Sie versuchte, ihre Füße auszustrecken. Es ging nicht. Sie versuchte, ihren Kopf zu heben, und stieß gegen die Decke. Sie saß fest, gefangen in etwas, das nicht größer war als ein Kaninchenstall.
Benommen starrte sie in dieses Schwarz, in dem nichts zu sehen war. Nicht mal die eigene Hand, die sie mit Mühe zu sich nach oben zog und dicht vor die Augen hielt. Außer ihrem Atem war nichts zu hören. Es roch nach frischem Holz und nach Walderde. Mit den Fingern tastete sie splittrige Bretterwände ab, auf der Suche nach einem Ausgang. So schnell verlor sie nicht die Hoffnung. » Es gibt für alles eine Lösung«, sagte ihre Mutter immer, wenn sie zusammen Mathe übten.
» Es gibt für alles eine Lösung«, flüsterte Leonie, um sich Mut zu machen. Morgen würde sie allen in der Schule davon erzählen. Morgen würde alles vorbei sein. Wenn sie erst mal wieder draußen an der frischen Luft war. Aber da war kein Spalt. Kein Loch. Nichts. Mit aller Kraft stemmte sie die nackten Füße gegen das Holz. Als das nichts brachte, schlug sie mit den Fäusten dagegen. Sie schrie: » Hallo! Ist da jemand?«
Sie lauschte. Keine Antwort.
Sie schrie noch lauter. » Hal-lo! Ist-da-jemand?!«
Aber da war niemand. Nur sie und das viereckige Dunkel um sie herum, aus dem es kein Entkommen gab.
Wusste ihre Mutter davon? Wer hatte ihr das angetan? Und warum? War das ein Scherz? Würde sie gleich befreit werden? Sollte sie bestraft werden? Sie wollte hier raus. Diese Enge war nicht auszuhalten. Sie schrie. » Lass mich raus!« Keine Sekunde länger hielt sie es hier drin aus. Keine Sekunde.
In ihren Ohren rauschte es. » Lass mich raus!« Beinahe hätte sie angefangen zu weinen. Beinahe.
Sie trug ihren Turnanzug. Ihren Turnanzug. Sie war beim Training gewesen. Daran erinnerte sie sich. Was noch? Sie hatte Flickflack auf dem Schwebebalken gemacht. Ja! Sehr gut! Zum ersten Mal war Leonie das gelungen. Was erinnerte sie noch? Warum war sie hier? Was hatte sie getan? War sie mit jemand Fremdem mitgegangen? War sie so bescheuert? Welcher Blödmann hatte sie in diese Kiste gesperrt? Wenn sie das wusste, würde sie vielleicht wissen, wie sie wieder rauskam.
Der Pony klebte ihr auf der verschwitzten Stirn. Um ihren Knöchel spürte sie irgendetwas Metallisches. Sie zog den Fuß noch dichter zu sich heran. Es war eine Kette, an der ein Anhänger klimperte. Oder sollte sie sterben? Wenn ja, wer hatte sich das ausgedacht? Was hatte sie getan, dass sie sterben sollte? Starb man so einfach als Kind?
Plötzlich hörte sie den dumpfen Aufprall herunterfallender Erdbrocken. Da war doch jemand. Da oben. Über ihr. Ein Mensch.
Sie schrie. » Lass mich raus!« Wer war das da oben? » Lass mich raus!« Immer neue Erdbrocken stürzten herunter. » Lass mich raus!« Wenn keiner kam, um sie zu retten, würde sie in diesem Scheißding sterben.
2 . MAYA
Das seltsame Wesen mit den spillerigen Beinen, den verfilzten blonden Haaren und dem Fellumhang blieb an der Kante des hohen Felsvorsprungs stehen. Seine schmale Silhouette hob sich scharf gegen den leuchtendroten Lichtstreif am Horizont ab. Der restliche Nachthimmel war schwarz. Zwischen den Füßen, die zum Schutz vor Kälte mit Lederlappen umwickelt waren, und dem steilen Abgrund war nicht mehr als eine Handbreit Platz.
Es war ein fünfzehnjähriges Mädchen. Mit riesigen grünen Augen. Entschlossenem Blick. Jagdmesser im Gürtel. Vor sieben Jahren war ihr Vater mit ihr aus der Stadt hinauf in die Wälder geflohen. Um denjenigen zu entkommen, die er die Widerwärtigen nannte und denen er alles zutraute. Von einem Tag auf den anderen hatte es nur noch sie beide gegeben. Ohne je irgendwo anzukommen, waren sie durch unbekannte, grenzenlose Wälder gezogen, immer weiter weg von St. Golden, um aus der Gefahrenzone herauszukommen. Sie hatten sich nirgends gemeldet, sie waren zu Geistern geworden, die gelernt hatten, im Wald zu überleben. Der Wald war ihnen ein strenger Lehrer. Er half und gab ihnen, aber er verzieh keinen Fehler. Letzten Dezember war ihr Vater im Steinbruch abgestürzt, als er Feuersteine gesucht hatte. Seitdem hatte Maya mit keinem Menschen mehr
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