Illusion der Weisheit
Spannung, dass man sie, wiewohl auf ganz eigene Weise, als Noir bezeichnen könnte.
Die unerbittliche, wiewohl faszinierende Hauptfigur ist hier ein Gynäkologe, der von Berufs wegen mit Prostituierten zu tun hat (sie sind seine Patientinnen) und sie in seiner Praxis umbringt, nachdem er sie betäubt hat. Das Besondere an diesem erzählerischen Element ist das Gefühl unmittelbarer Gefahr, das sich auf den Leser überträgt.
Vieles in diesem Buch überrascht.
In erster Linie die Qualität des Stils oder besser der Stile, die in ihrer Wandelbarkeit mal an Alice Munro und mal an Patricia Highsmith erinnern.
Die Fähigkeit, trotz des verblüffend mühelosen Wechsels zwischen den Registern den geradezu rätselhaften Eindruck entstehen zu lassen, dass es sich um eine Handschrift handelt.
Die Fähigkeit, die Ängste und Schrecken eines Mädchens, das sein Schicksal im Schreiben sieht, ebenso gekonnt zu bannen wie abgründige Sexfantasien und die beängstigende Normalität eines verbrecherischen Hirns.
Die Fähigkeit, unterschiedlichste Ereignisse miteinander zu verknüpfen. Das ist das Neue an Das doppelte Leben der Natalia Blum . Eine harmonische und überraschend natürliche Verschmelzung der Genres (Erweckungsroman, autobiografischer Roman, Literatur über Literatur, Thriller), die gekonnt in etwas Neuem und Einzigartigem aufgehen.
Unbedingt verlegenswert.
In jener Nacht fand ich nur schwer in den Schlaf und wurde von Angstträumen geplagt, wie sie einen manchmal zwischen Wachen und Schlafen überfallen.
Am nächsten Morgen nahm ich das Manuskript mit in den Verlag. Obwohl ich einen Haufen Arbeit auf dem Tisch hatte, las ich Das doppelte Leben der Natalia Blum noch einmal, von der ersten bis zur letzten Seite.
Ich dachte, dass ich ihr sofort schreiben müsste. Dann sagte ich mir, dass ich vielleicht noch ein wenig warten sollte. Einen Tag nach Erhalt des Manuskriptes, das hätte wirklich gegen jede Regel verstoßen. Verdammt, ich bin der berühmte Lektor Marco Blasetti. Ich habe einen Haufen um die Ohren, wie kann ich mich da sofort über das Manuskript einer Unbekannten hermachen. Und vor allem habe ich es nicht nötig zu wissen, wie eine Geschichte ausgeht.
Warten. Du musst warten. Schreib ihr in zehn Tagen, nicht vorher. Damit klar ist, wer hier das Sagen hat.
Nachdem ich diesen Vorsatz gefasst hatte, schrieb ich ihr nachmittags eine Mail. Das war nicht einfach. Mindestens zehnmal fing ich von vorn an, um den für mein Empfinden richtigen Ton zu finden.
Liebe Natalia,
zwischenzeitlich war es mir möglich, einen Blick in Ihr Manuskript zu werfen. Ich habe den Eindruck, dass sich das eine oder andere Interessante herausholen ließe, doch selbstverständlich müsste gegebenenfalls noch daran gearbeitet werden. Ein genaueres Urteil darüber, ob eine Veröffentlichung in Frage käme, kann ich natürlich erst dann fällen, wenn ich den ganzen Roman gelesen habe. Haben Sie sich schon dem zweiten Teil widmen können? Wenn ja, würde ich Sie bitten, ihn mir zu schicken, damit ich ein Gutachten anfertigen kann.
Herzlich, Ihr
Marco Blasetti
Als ich mir Stichpunkte zu dieser Erzählung machte, habe ich die Mail noch einmal gelesen. Sie ist zum Kotzen. Da hatte ich mich hinter widerlichem Bürokratenjargon versteckt, um bloß nicht meine Überraschung, meine Bewunderung und vor allem nicht meine Ungeduld auf die Fortsetzung zu zeigen.
Natalia antwortete mir am nächsten Tag.
Danke, Marco (darf ich Sie Marco nennen?), dass Sie meine Arbeit so schnell gelesen haben. Ich hätte nie damit gerechnet.
Ich schreibe an der Fortsetzung. Als Laie habe ich noch keine richtige Methode und schreibe einfach drauflos. Erst danach schreibe ich sie ins – hoffentlich – lesbare Reine. Ich versuche mich an Ihre Ratschläge zu halten (die aus dem Buch, meine ich), aber es gelingt mir nicht immer. Bis auf das Ende habe ich den ganzen Roman zusammen, doch den lesbaren Teil haben Sie bereits. In ein paar Tagen sollte ich ein neues Kapitel fertig haben.
Soll ich es Ihnen schicken? Vielleicht als E-Mail-Anhang?
Sollte Ihnen das nicht recht sein, schicke ich einen Ausdruck per Post.
Dankedankedanke.
Dieses Dankedankedanke rührte mich. Die Reaktion eines Teenagers, sagte ich mir, innerlich die Achseln zuckend, und versuchte sachlich zu bleiben.
Und während ich noch versuchte sachlich zu bleiben, schrieb ich ihr zurück. In, wie mir schien, locker distanziertem Ton setzte ich sie in Kenntnis, dass ein Ausdruck per Post nicht
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