Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Illusion der Weisheit

Illusion der Weisheit

Titel: Illusion der Weisheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gianrico Carofiglio
Vom Netzwerk:
Romans. Mehr oder weniger die Hälfte, und ich weiß nicht, wie er enden wird. Es ist, als würden sich ganz viele Dinge um diese Geschichte drehen, in meinem Kopf und in meinem Leben, und ich weiß nicht, welche genau etwas mit dem Ende der Geschichte zu tun haben. Als müsste mir das Ende der Geschichte passieren, damit es erzählt werden kann. Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll. Jedenfalls sind es hundertfünfzig Manuskriptseiten à zweitausend Anschläge. Sie sollen wissen, und das sage ich nicht, um mich bei Ihnen einzuschmeicheln, dass ich erst nach der Lektüre Ihres Buches anfangen konnte zu schreiben und im Rahmen meiner Möglichkeiten versuche, Ihre Ratschläge zu befolgen.«
    Ich empfand lächerlichen Stolz, und gleich darauf durchschoss mich der Gedanke, dass ich selbst so gut wie kein Wort von dem glaubte, was ich geschrieben hatte. Kein sehr angenehmes Gefühl.
    »Auf dem Deckblatt sind alle meine Daten. Also, darf ich es Ihnen dalassen?«
    Ich griff danach, riss es ihr fast aus der Hand.
    »Natürlich, geben Sie es mir. Ich werfe gern einen Blick hinein.«
    »Wow! Danke! Sie haben mir den Abend und die ganze Woche gerettet. Danke. Aber jetzt muss ich wirklich los, ich bin schon viel zu spät.«
    Sie zögerte kurz, gab mir einen Kuss auf die Wange und eilte davon.
    Im Flugzeug setzte ich mich auf meinen Platz und zog das Manuskript aus der Tasche.
    Das doppelte Leben der Natalia Blum. Prätentiöser Titel, dachte ich aus beruflichem Reflex. Für wen hält die sich, für Joyces Nichte?
    Aber dann musste ich mir eingestehen, dass es eigentlich nicht schlecht klang. Dieses Zugeständnis nervte mich, der berufliche Reflex nervte mich, alles nervte mich. Ich kam mir blöd vor.
    Ich las die persönlichen Angaben unter dem Titel. Telefonnummer, E-Mail und natürlich Name und Adresse.
    Natalia B. (derselbe Name wie die Romanfigur, meistens ein ganz schlechtes Zeichen, dachte ich; doch in diesem Fall erschien es geradezu unumgänglich) wohnte in einem Viertel von Bari namens Torre a Mare. Seltsamer Name. Für einen wie mich, der in den Vorstädten des Nordens groß geworden ist, sogar ein wenig exotisch.
    Vielleicht sollte ich einen Blick auf die ersten Sätze werfen. Sie würden wie immer unleserlich sein, und ich würde den ganzen Kram guten Gewissens wegschmeißen können.
    Okay, nur ein paar Zeilen.
    Seit drei Jahren arbeite ich als Nutte. Ich habe einen Uniabschluss in Jura, und mein Vater glaubt, ich will Richterin werden. Als ich aufs Gymnasium kam, war das für ihn bereits beschlossene Sache.
Stattdessen arbeite ich tagsüber als Nutte, und nachts schreibe ich.
    Scheiße, sagte ich mir. Ich sagte es tatsächlich. Zwar nicht besonders laut, doch der Herr neben mir hatte mich bestimmt gehört und blinzelte empört herüber, wie mir schien.
    Scheiße.
    Das Flugzeug war noch nicht gestartet, da hatte ich bereits zu lesen angefangen. Als wir landeten, war ich auf der Hälfte; ich las im Taxi, zu Hause, und nachts um eins war ich fertig. Mein erster klarer Gedanke war, dass ich den Rest lesen musste. Und zwar schnell.
    Bücher lesen ist mein Beruf, und insofern betreibe ich Prostitution: Ich tue etwas für Geld, das andere für gewöhnlich zum Vergnügen tun. Aber auch Nutten tun es manchmal zum Vergnügen.
    Natalia B.s Geschichte hatte Rhythmus und Figuren, die über die Seiten hinauswuchsen. Und sie war voller Musik – das Thema des Romans war der Kanon von Pachelbel, den die Hauptfigur immer nach ihrem letzten Kunden hörte, ehe sie zu schreiben begann – über Bücher, Wut, Sehnsucht. Über die zehrendste Sehnsucht überhaupt, nach den Dingen, die nicht geschehen sind.
    Da ich hellwach war und nicht schlafen konnte, beschloss ich, ein Gutachten des Romans zu schreiben. Des halben Romans. Ich schrieb es per Hand, denn zu Hause habe ich nie einen Computer gehabt. Es lautete wie folgt.
    Hinweis für den Programmleiter
    Das doppelte Leben der Natalia Blum ist eine komplex und ambitioniert konstruierte Geschichte, die zwischen verschiedenen erzählerischen und stilistischen Ebenen wechselt. Hauptthema ist die Lebensbeschreibung der Protagonistin in erster Person. Tagsüber prostituiert sie sich, um gegen ein angeblich besiegeltes gesellschaftliches und familiäres Schicksal zu rebellieren; nachts ist sie eine angehende Schriftstellerin, die an einem Erweckungsroman arbeitet.
    Eine weitere erzählerische Ebene (in dritter Person und stilistisch gänzlich anders) verleiht der Geschichte so viel

Weitere Kostenlose Bücher