Im Angesicht der Schuld
seine Hand in meine nahm, schien sie wie in einem losen Gelenk zu hängen. Sie war kalt und wächsern. Ich legte sie an meine Wange, um sie zu wärmen, aber es wollte mir nicht gelingen.
Der Kragen seines Oberhemdes stand offen. Das Hemd war voller Blut und Schmutz. Ich strich darüber und überlegte einen absurden, unwirklichen Moment lang, ob diese Flecken in der Wäsche je wieder rausgehen würden. Oder waren sie genauso endgültig wie sein Tod?
Ich streckte mich neben ihm auf der Erde aus, hob seinen verletzten Kopf in meine Armbeuge und …
» Frau Gaspary … « Die Stimme von Kai-Uwe Andres klang in einer Weise hilflos, wie ich sie später nie wieder hören sollte.
» Lass sie! Sie weiß, was sie tut. «
Ich war seiner Kollegin dankbar für den Versuch, mich zu verstehen. Aber wusste ich wirklich, was ich tat? Wenn ja, dann war es ein Wissen, das aus Tiefen kam, die mir bisher verborgen gewesen waren, ein Wissen, das einer Intuition folgte, der schon Generationen vor mir gefolgt waren.
Ich legte meine kühlen Lippen auf seine kalten und roch Blut, das an manchen Stellen noch klebrig, an anderen bereits verkrustet war. Ich schlang einen Arm um seinen Körper, schloss die Augen und legte meine Wange an seine unversehrte. Wenn ich mich anstrengte, würden die Unruhe und die Stimmen um uns herum vielleicht so weit in den Hintergrund treten, dass die Vorstellung, mit ihm allein zu sein, eine Chance hatte, sich durchzusetzen.
» Wir wollten zusammen steinalt werden … «, flüsterte ich in sein Ohr. War das wirklich meine Stimme? Wenn ich nur die Kälte seiner Wange hätte mildern können. Sie ließ mich frieren. Durch jede Pore kroch eine eisige Kälte in mich hinein. Und durch jede Pore seines Körpers verflüchtigte sich sein Geruch. Er wurde von Sekunde zu Sekunde schwächer, veränderte sich. Während sein Kopf schwer in meinem Arm lag, hinterließen meine Tränen warme Spuren auf meinem Gesicht. Ich stützte mich auf und sah ihn an. Ein letztes Mal berührte ich seine Lippen. » Ich liebe dich, Gregor … vom ersten Tag an … und jeden Tag ein bisschen mehr. «
Vorsichtig zog ich meinen Arm unter seinem Kopf hervor und stand langsam auf. Von irgendwoher kam eine Hand, die mich stützte. Während ich ein paar Schritte zurücktrat, öffneten die beiden Männer de n S arg neben Gregor, falteten eine Plastikpl a ne auseinander und legten meinen Mann in den Sarg.
» Kommen Sie, Frau Gaspary. « Kai-Uwe Andres sah mich mitfühlend an.
» Dort liegt der Mann, den ich liebe. Es ist sein Gesicht, das gleich zugedeckt wird. Wie kann ich meines da abwenden? « Ich blieb stehen und sah zu, wie dieses Gesicht, dessen Anblick mich so viele Jahre lang froh gemacht hatte, unter dickem, grauem Kunststoff verschwand. » Was geschieht mit meinem Mann im gerichtsmedizinischen Institut? «
» Der Staatsanwalt wird anhand der Aktenlage entscheiden, ob eine Obduktion anzuordnen ist. « Man merkte dem Kripomann an, dass er nun wieder Boden betrat, auf dem er sich zu Hause fühlte. » So wie es aussieht, handelt es sich jedoch um einen Suizid, der genau wie ein Unfall strafrechtlich nicht relevant ist. Obduziert wird nur dann, wenn ein Fremdverschulden nicht ausgeschlossen werden kann. «
» Wie lange muss Gregor, ich meine, sein Körper dort ble i ben? «
» Wenn unsere Ermittlungen Suizid oder Unfall ergeben, dann wird die Leiche Ihres Mannes in circa zwei Tagen frei geg e ben. « Er räusperte sich. » Frau Kluge und ich werden Sie gleich nach Hause begleiten, da wir ein paar Fragen an Sie haben und die Unterlagen Ihres Mannes sichten müssen. «
Ich sah zu, wie der Sarg, in dem Gregor lag, in den Leiche n wagen geschoben wurde. Als die Klappe des Wagens zuschlug, meinte ich, den Schlag körperlich zu spüren. Ich zuckte zusa m men und schlang die Arme um mich.
Felicitas Kluge trat zu mir. » Frau Gaspary, Sie zittern vor Kälte. Lassen Sie uns gehen, damit Sie sich nicht erkälten. «
Erkälten? Das würde nur vorübergehend sein. Aber erkalten –das war für immer. Gregor war erkaltet. Seine Seele hatte seinen Körper verlassen. Was sollte aus meiner werden? Mechanisch setzte ich mich in Bewegung und folgte der Kripobeamtin, die mit behutsamen Blicken und Gesten versuchte, mich Schritt für Schritt hinter sich herzulotsen.
Hinter der Absperrung warteten Menschen. Sie schienen jede unserer Bewegungen zu verfolgen. Manche starrten mich unverhohlen neugierig an, andere wendeten den Blick ab, als hätte ich eine
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