Glashaus
Boyle / 2. – 3. September 1999
2. September 1999. Drei Uhr nachts. Das Polizeipräsidium war so still wie zu keiner anderen Zeit. Boyle stand rauchend in der Verbindungstür zwischen den Fachkommissariaten Eins und Acht.
Eigentlich hatte Boyle in beiden Abteilungen derzeit nichts zu suchen, denn seine Schicht war seit über zwei Stunden vorbei.
Boyle sah sich misstrauisch um, trat ins Büro des Chefs der Fahrbereitschaft und schloss die Tür. Er brauchte keine Minute, um zu finden wonach er suchte: Den Einsatzplan der Dienstfahrzeuge.
Boyle wusste, dass die Drogenabteilung des LKA den roten Porsche des Präsidiums für eine Undercoveraktion angefordert hatte. Was Boyle nicht wusste, war der exakte Zeitpunkt. Deswegen war er hier.
Er blätterte den Papierstapel auf dem Schreibtisch durch. Da war die Anforderung des LKA.
Am 3. September um neun Uhr dreißig morgens würden zwei Fahnder des LKA sich in den roten Porsche setzen, um mit sechs Kilo Koks auf dem Rücksitz im Hotel Excelsior einen getürkten Deal mit einem stillen Amerikaner anzuschieben.
Nur würde das Koks nie im Excelsior ankommen, weil Boyle und Teddy Amin, Nikolas Premuda, dem Yugo–Paten, Fahrstrecke und Abfahrtsort des roten Porsche verkaufen würden.
Teddy tat es allein für das Geld. Boyle auch, aber eben nicht nur.
Sorgfältig schloss Boyle die Tür hinter sich und lief über den langen Gang zum Aufzug, der ihn in die Tiefgarage zu seinem klapprigen Golf bringen würde.
Boyles sah sein Gesicht im Rückspiegel seines Wagens: die tiefblauen Augen seiner Mutter, die eigenartig intensiv mit der dunklen Haut seines afrikanischen Vaters kontrastierten. Früher hatte Boyle sich manchmal gefragt, wer sein Vater gewesen war, heute war es ihm so ziemlich gleichgültig. Wie eine alte Narbe, die zwar manchmal noch juckte, aber mit der man längst zu leben gelernt hatte.
War das Angst, was da in seine blauen Augen stand?
Bestimmt.
Es wäre verrückt keine Angst vor morgen zu haben. Trotzdem konnte nichts schief gehen. Premudas Männer waren zu gut, um Fehler zu machen.
Teddy Amin und Boyle kannten sich fast so lange, wie er denken konnte. Trotzdem merkwürdig, dass Boyle ausgerechnet Polizist geworden war und Teddy in demselben Jahr zum ersten Mal in den Knast marschiert war, als Boyle auf die Polizeischule ging.
Als Boyle mit der Polizeischule durch war, war Teddy bereits ein paar Monate wieder draußen. Boyle war der Musterschüler mit dem zweitbesten Ergebnis seines Jahrgangs. Teddy mauserte sich zum aufstrebenden Stern am Gangsterhimmel. Nach drei Jahren Streifendienst wurde Boyle zum Kriminaldienst versetzt. Ungefähr zur selben Zeit schrieb irgendeiner von Boyles Kollegen in Anspielung auf die Italienergangs der Cosa Nostra, Koscha Nostra auf Teddys Polizeiakte.
Koscha Nostra, die Gang der Juden. Und Teddy war ihr unumschränkter Boss. Zwanzig junge jüdische Einwanderer aus Russland dienten ihm als Eintreiber, Rausschmeißer oder Beschützer der Mädchen, die er in seinen Bordellen beschäftigte.
Ein Gangster und ein Bulle. Und trotzdem hatte es seit zwanzig Jahren keinen Tag im Leben des Lewis Boyle gegeben, an dem er Teddy Amin nicht blind sein Leben anvertraut hätte. Wenn auch wahrscheinlich nicht seine Frau. Aber das zählte auch nicht. Denn eine Frau hatte er sowieso nicht. Jedenfalls keine, von der er auf die Idee gekommen wäre, sie so zu bezeichnen.
Am folgenden Morgen waren die Straßen zwar nass vom nächtlichen Regen, aber die Luft selbst für Anfang September viel zu heiß.
Teddy und Boyle hockten in Teddys Mini Cooper und trieben mit dem Pendlerstrom aus der Stadt Richtung Industriezentrum Ost. Beide hingen ihren eigenen Gedanken nach. Im Ascher glühte eine Kippe vor sich hin und draußen zischte die immer gleiche Lärmschutzwand an ihnen vorbei.
Zwanzig Minuten später bog Teddys Cooper in die Einfahrt eines Schrottplatzes und rollte dann an dem frisch verputzten Bürohäuschen und Bergen von übereinander gestapelten Autowracks vorbei zu einer flachen Lagerhalle.
Schien als waren Teddy und Boyle um einige Minuten zu früh dran. Alles, was sich an menschlichen Wesen zeigte, war ein fetter Typ in einem ölfleckigen Overall, der wirkte, als habe er die letzten zehn Jahre in einem Ölfass verbracht.
Einige Minuten später rollte ein unauffälliger dunkler Toyota an dem Mini vorüber und in die Lagerhalle hinein. Teddy und Boyle folgten ihm.
Die Halle war bis auf einen Hallenkran und einige verrostete Stahlträger
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