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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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Andersdenkende durchsetzen. Nur der Grad der dabei zum Vorschein kommenden Brutalität ist historischen Schwankungen unterworfen.»
    Hawley ging zum Kühlschrank, nahm einige Eiswürfel heraus und gab sie in sein Glas.
    «So ganz habe ich ehrlich gesagt noch nicht verstanden, was Sie mit Antitheismus meinen.»
    «Wie Russel mit seiner Teekanne wunderbar gezeigt hat, muss nicht der Skeptiker beweisen, dass es keinen Gott gibt. Vielmehr ist es an den Theisten, einen schlüssigen Beweis vorzulegen. Das haben sie bis heute nicht getan. Trotzdem kann ich als redlicher Wissenschaftler nicht behaupten, dass es mit Sicherheit keinen Gott gibt – genauso wenig, wie ich die Nichtexistenz von irgendetwas anderem beweisen kann. Allerdings bin ich der Ansicht, dass es an der Zeit ist, das System des Theismus zu überwinden. Wir brauchen es nicht mehr, um die Welt um uns herum zu verstehen.»
    Hawley hatte nicht wieder im Sessel Platz genommen, sondern stand neben Engel am Fenster.
    «Ich gebe Ihnen recht, Wolfram. Aber was antworten wir denen, die sagen, wir brauchen die Religion als ethisches Leitsystem? Wo stünden wir moralisch ohne die Zehn Gebote?»
    «Als moralische Instanzen haben alle Religionssysteme in den vergangenen Jahrtausenden total versagt. Und die Zehn Gebote helfen uns nicht weiter. Nehmen Sie das Tötungsverbot, Patrick. Gilt das auch für den Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus? Oder das achte Gebot Du sollst kein falsches Zeugnis ablegen gegen deinen Nächsten . Ist damit derjenige reingewaschen, der im Gestapo-Verhör seinen jüdischen Nachbarn verriet, statt ihn durch eine Lüge zu schützen?»
    Für einige Sekunden schwiegen die beiden Männer, ehe Hawley fragte:
    «Also müssten Sie es doch begrüßen, wenn wir mit Hendersons Fund endlich beweisen können, dass zumindest eine Religion frei erfunden ist.»
    Engel ging langsam auf das Sofa zu und setzte sich. Jetzt musste er vorsichtig formulieren, damit diejenigen, die ihr Gespräch ohne Zweifel belauschten, keinen Verdacht schöpften. «Deshalb ist es so wichtig, dass wir alle Ergebnisse absolut wasserdicht machen. Es tut mir leid, dass Sie und Sarah nicht mit nach Rom reisen können, aber ... «
    Hawley winkte ab, nahm die Aktenmappe, die Engel ihm in der Bibliothek überreicht hatte, vom Tisch, setzte sich direkt neben ihn und schlug sie auf. Obenauf lag ein von einem Schreibblock abgerissenes, liniertes Blatt Papier. Handschriftlich hatte der Rechtsmediziner in großen Druckbuchstaben - er vertraute Engels Entzifferungskünsten wohl nicht - notiert:
    «Sarah und Sie glauben, dass es Henderson nicht um wissenschaftliche Redlichkeit geht, sondern um eine persönliche Rache, für die er uns alle auf eine perfide Art benutzt. Stimmt das?»
    Engel nickte schweigend, erhob sich und ging langsam zur Tür. Als er den Raum schon fast verlassen hatte, blickte er noch einmal zurück.
    «Es kommt darauf an, dass Sie und Sarah perfekte Arbeit abliefern.»
    Hawley nickte bedächtig.
    Engel schloss die Tür. Die Saat war gelegt.

Drei Tage vor der Auferstehung
     
     
    Engel stand staunend in der riesigen Eingangshalle des Palazzo di Marcobaldi. Der Raum war über acht Meter hoch, und Gobelins mit unterschiedlichen Sujets zierten die Wände. Szenen von Kreuzzügen, Ansichten von Konstantinopel und Jerusalem, die Stadt Rom. Auf den kostbaren Marmorfliesen stand als einziges Möbelstück eine kleine, auf zierlichen Füßen ruhende Kommode, daneben leuchtete ein Strauß Sonnenblumen in einer riesigen Bodenvase. Der Raum atmete Geschichte und «altes Geld». Die wenigsten Neureichen verstanden, dass man Macht nicht durch die Menge an Accessoires und kostbaren Möbelstücken demonstrierte, sondern durch die bewusste Reduktion.
    Henderson deutete auf die Gobelins.
    «Wer weiß, vielleicht ist hier einer der Vorfahren unseres Marchese abgebildet.»
    Im Flugzeug hatte Latour ihnen die Biografie von Guglielmo Marchese di Marcobaldi vortragen wollen. Die Aufmerksamkeit der anderen war allerdings nicht groß, sie verhielten sich eher wie lärmende Schüler auf Klassenreise. Henderson hatte darauf bestanden, auf dem mit dem päpstlichen Wappen versehenen und mit weißem Satin bezogenen Sitz Platz zu nehmen, der sonst dem Papst vorbehalten war. Kichernd wie ein Kind ließ er sich in den Sitz fallen und bestellte bei der Stewardess ein großes Glas Messwein, was diese mit einem verärgerten Stirnrunzeln quittierte.
    Auch Engel war mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt.

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