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Im Antlitz des Herrn

Im Antlitz des Herrn

Titel: Im Antlitz des Herrn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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eiligen Schrittes durchquerten, um durch eine breite Schiebetür einen kleinen, etwa halb so großen Raum zu betreten. Hier standen mehrere Dutzend Stühle in einem sanft geschwungenen Halbrund vor der Längswand, die komplett von einem Vorhang bedeckt war.
    «Setzen Sie sich, bitte setzen Sie sich.»
    Die Stimme des Marchese war schrill und hoch, sie wirkte unnatürlich aufgedreht, fast clownesk, und stand im krassen Gegensatz zur Gediegenheit der Lokalität.
    «Mein verehrter Freund André und der hochverehrte Mr. Henderson, was wäre die heutige Archäologie ohne ihn», er beugte den Rumpf nach vorne und streckte beide Arme so weit nach hinten, dass Engel Angst hatte, er würde vornüber kippen, «haben mich gebeten, Ihnen die Wahrheit über das Turiner Grabtuch zu erzählen. Wie könnte ich Ihren Wunsch abschlagen, zumal Sie einen Jahrhundertfund, ach, was sage ich, einen Jahrtausendfund gemacht haben. Es freut mich als Großmeister der Gilde vom Heiligen Tuch, die sich seit Jahrhunderten dem Schutz und der Erforschung dieses einmaligen historischen Zeugnisses widmet, Ihnen den Schlussstein in einer Argumentationskette liefern zu können, welche die Existenz Jesu und seines Martyriums endlich und für alle Zeiten schlüssig erläutert.»
    Der Marchese ging zur Wand und schob den Vorhang um einige Zentimeter zur Seite. Als seine Hand gefunden hatte, was sie suchte, wandte er sich wieder an seine Zuhörer:
    «Sicherlich steht Ihnen das Tuch nicht plastisch vor Augen. Deshalb sollten wir uns erst ansehen, wovon wir sprechen.»
    Er drückte auf einen in der Wand hinter dem Tuch versteckten Knopf. Der Vorhang teilte sich in der Mitte und schwang langsam auseinander. Alle vier konnten ihr Erstaunen nicht verbergen, denn es kam ein langer, in Mahagoni gerahmter Glaskasten zum Vorschein.
    «Hier ist es also, das sogenannte Turiner Grabtuch.»
    Der Marchese wartete einen Moment, ehe er stakkatohaft lachte. «Natürlich nicht das echte, auch wenn ich das amerikanischen Touristen manchmal erzähle. Das echte Heilige Tuch, so bezeichnen wir dieses Artefakt viel lieber, befindet sich in der Kathedrale hinter dickem Panzerglas und ist - leider, leider – für die Öffentlichkeit nicht zugänglich. Was die Maße angeht, vier Meter sechsunddreißig mal einen Meter zehn, und auch hinsichtlich Farbgebung und Schärfe der Abbildung entspricht diese Replik voll und ganz dem Original. Wie Sie alle unschwer erkennen können, ist auf dem Tuch die Negativabbildung eines menschlichen Körpers zu sehen – anatomisch einwandfrei und ohne jede Verzerrung.»
    Anschließend erläuterte der Marchese unter Zuhilfenahme eines altertümlichen Zeigestocks die Abbildung genauer. Vor allem deute er auf die Spuren der Folterung, die Dornenhaube, die Wunden durch die Nagelung ans Kreuz sowie die Verletzung in der Leistengegend.
    Die Gruppe hörte fast ehrfurchtsvoll zu. Engel fasste sich als Erster, irgendetwas an diesem seltsamen Zwerg reizte ihn zur Provokation.
    «Es ist erstaunlich, über welche Fähigkeiten dieser unbekannte Maler aus dem Mittelalter verfügte.»
    Der Marchese lächelte ihn an.
    «Die Behauptung, es handele sich bei dem Tuch um ein Gemälde, wurde zwar immer wieder aufgestellt, aber leider ist sie erwiesenermaßen falsch.»
    Die Abbildung sei eindeutig ein Negativ, erst die neuzeitliche Erfindung der Fotografie habe es ermöglicht, aus diesem Negativ ein stufenlos abgeschattetes, realitätsechtes «Schwarzweißfoto» zu erstellen.
    «Sehen Sie selbst.»
    Der Marchese hatte eine Fernbedienung zu Hand genommen. An der rechten Seite des Raumes wurde ebenfalls ein Vorhang zur Seite geschoben. Dahinter befand sich eine Leinwand, auf die jetzt ein Foto projiziert wurde.
    «Unglaublich.» Theresia Stone legte ihre Hand auf den Mund und starrte auf das Bild. Die Fotografie zeigte eindeutig den gleichen Mann wie das Phantombild im Londoner Mausoleum. Ihr Knochenmann namens Jesus war auf dem Turiner Grabtuch abgebildet. In Engel rasten die Gedanken. Was er als spontane Idee aus dem Hut gezaubert hatte, um Zeit zu gewinnen, schien real zu sein. So sehr er sich auch dagegen sträubte, fand er für diese Übereinstimmung keine logische Erklärung außer der, dass beides echt war ‒ das Tuch und das Skelett. Und das bedeutete, dass sie tatsächlich ... Er verbot sich diesen Gedanken, konzentrierte sich auf den Marchese und versuchte, so fest wie möglich zu klingen, als er sagte:
    «Zugegeben, die Ähnlichkeit mit unserem Skelett ist

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