Im Antlitz des Herrn
Alles hing jetzt von Sarah und Hawley ab. Er hoffte, dass Henderson die Überwachung in den Büros und Labors zumindest eingeschränkt, wenn nicht ganz aufgehoben hatte, damit sich alle Mitarbeiter auf die sichere Überführung der Fundstücke und der technischen Ausrüstung an ihren endgültigen Bestimmungsort konzentrieren konnten. Was zum Teufel hatte der Brite nur mit seiner Andeutung gemeint, sie kämen an einen Ort, wo die Gebeine die ihnen zustehende Anbetung erfahren würden?
Egal, wichtig war im Moment nur, dass die Sicherheitskräfte sich nicht mehr auf London und die Überwachung der Mitarbeiter konzentrierten, sondern auf den Schutz der Ausgrabungsstücke fokussiert waren. Zumindest hoffte Engel das, denn es war entscheidend, dass Sarah und Hawley sich Zugang zu allen Unterlagen verschafften. Einen kleinen Erfolg hatte es noch gestern Abend gegeben. Sarah war es gelungen, das Präsentationsvideo zu kopieren und Engel zuzuspielen. Er hatte da so eine Idee. Seine Aufgabe bestand aber im Moment nur darin, Angela und Hannah zu schützen, und das hieß: Zeit zu gewinnen und den Vatikan auf der einen und Henderson auf der anderen Seite in Sicherheit zu wiegen.
Als Latour erkannte, dass sich kaum jemand für die Details der Lebensgeschichte des Marchese interessierte, fasst er sie in wenigen Worten zusammen:
«Uralte Familie, steinreich, mit großem Einfluss auf die Politik der Stadt und des Landes. In achter Generation Großmeister der Gilde vom heiligen Tuch.»
«Großmeister von was?» Jetzt war Theresia Stones Interesse geweckt, die bis dahin in einem Reiseführer über Rom gelesen hatte. Schließlich verschlang sie jede der unzähligen in Büchern und zweifelhaften Periodika dargelegten Verschwörungstheorien, nach denen die Welt in Wirklichkeit nicht von Herrschern und Politikern, sondern von einigen wenigen, seit Jahrhunderten um die Macht kämpfenden Geheimbünden beherrscht wurde. Auch die anderen hörten aufmerksamer zu. Latour stand auf und stellte sich in den Mittelgang.
«Die Gilde hat es sich seit Jahrhunderten zur Aufgabe gemacht, das Grabtuch zu schützen. Es hat eine wechselvolle und spannende Geschichte hinter sich. Vielleicht interessiert sich dafür ja jemand?»
Er hatte die Frage mit einem süffisanten Lächeln gestellt, da aber niemand widersprach, begann er aus dem Gedächtnis die wichtigsten historischen Fakten zu referieren. Anscheinend hatte er sich über Nacht ein profundes Wissen angeeignet. Engel merkte, wie bruchstückhaft seine eigenen Kenntnisse waren. Zwar wusste er, dass die Geschichte des Tuchs seit dem Ende des 14. Jahrhunderts, genau seit 1389, wie Latour berichtete, lückenlos nachgewiesen ist. Er wusste auch, dass es verschiedene Legenden über die Geschichte des Tuchs vor diesem Datum gab. Bisher hatte er sie für fromme Märchen gehalten, Latour war da wenigstens zum Teil anderer Meinung. Eine dieser Legenden besagte, dass die Jünger Jesu das Tuch nach Edessa brachten. Angeblich hatte der dortige König Abgar von den Wundertaten Jesu gehört und ihn gebeten, zu ihm zu kommen, um ihn von einer schweren Krankheit zu heilen. Stattdessen kam ein Jünger mit dem Leichentuch des inzwischen Gekreuzigten, das sich als wundertätig erwies und Kranke heilte. Latour vertrat zehntausend Meter über der Erde in einem mit achthundert Stundenkilometern dahinrasenden Flugzeug die Meinung, dass diese Legende einen wahren Kern enthalten könne. Vielleicht wäre das Grabtuch identisch mit dem sogenannten Mandylion.
«Moment», wandte Engel ein, «wenn ich mich recht erinnere, ist dieses Bild ein Kopfabdruck und kein Ganzkörperbildnis.»
«Richtig, aber bedenken Sie, dass Leichentücher für Juden unrein waren. Sollte ein Jünger ein solch unreines Leichentuch einem König überbringen? Vielleicht hat man es gefaltet und gerahmt.»
Engel war zwar weiter der Meinung, dass diese Hypothese weit hergeholt war, ließ es aber zunächst damit bewenden. Latour fuhr in seiner Erzählung fort. Das Mandylion sei später in eine Wand eingemauert worden, wo es die Jahrhunderte überdauerte und erst im 6. Jahrhundert entdeckt wurde. Von da an beeinflusste es die Darstellung des Aussehens Christi ganz maßgeblich.
Latour hatte sich mit einem Knie auf einen Sitz gehockt und stützte sich mit den Unterarmen auf der Rückenlehne.
«Ist Ihnen eigentlich schon einmal aufgefallen, wie ähnlich sich die frühen Christus-Darstellungen sind? Die Ursache kann nur darin liegen, dass es eine Vorlage gab,
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