Im Antlitz des Herrn
frappierend. Es gibt nur ein Problem. Unsere Knochen sind zweitausend Jahre alt, das Tuch wurde von drei unabhängigen Instituten auf das 14. Jahrhundert datiert.»
Wieder ertönte dieses unsympathische Lachen, das sich anhörte wie die Balzgeräusche einer Krähe.
«Na, dann schauen Sie mal.»
Der Marchese drückte theatralisch auf einig Knöpfe der Fernbedienung. Das Foto verschwand, und stattdessen erschien auf der Leinwand ein Nachrichtensprecher der BBC, der einen Bericht über die Entnahme von Proben zur Altersbestimmung des berühmten Turiner Grabtuchs ankündigte. Als Datum war am oberen Bildrand der 21. April 1988 eingeblendet. Schnitt. Der angekündigte Bericht begann. In einer Kapelle lag das Tuch offen in seinem Behältnis aus dickem Glas. Der Deckel war abgenommen. Zu sehen waren ein Kardinal in vollem Ornat sowie einige Männer in Zivilkleidung. Der Kardinal nahm den Stoff in die Hand. Aus dem Off erklang die Stimme des Kommentators.
«Kardinal Anastasio Ballestrero wird ein kleines, etwa zehn mal siebzig Millimeter großes Stück aus dem linken Eckrand des Tuchs heraustrennen. Anschließend wird er diese Probe in drei Teile zerschneiden. Jeweils ein Stück wird zusammen mit drei Kontrollproben an drei der renommiertesten wissenschaftlichen Institute zur genauen Datierung geschickt werden.»
Der Kardinal hält die Schere affektiert, dachte Engel. Vielleicht war es die Ehrfurcht vor der Reliquie und das Wissen, von Millionen von Menschen an Fernsehgeräten überall auf der Welt beobachtet zu werden, das ihn zu dieser eigenartigen, vorsichtigen Handhabung veranlasste.
«Achtung, jetzt passen Sie auf, was passiert», rief der Marchese aufgeregt, als würde er das Video zum ersten Mal vorführen.
Der Kardinal nahm das abgeschnittene Stück Stoff und ging in einen Nebenraum. Nach geraumer Zeit kam er wieder heraus und präsentierte auf einem Tablett zwölf Röhrchen.
«Was zum Teufel hat unser Purpurträger dahinten gemacht? Warum konnten die Proben nicht in aller Öffentlichkeit in die Röhrchen gegeben werden?»
Der Marchese ereiferte sich derart, dass sein Gesicht vor Zorn rot anlief.
«Die Antwort ist einfach. Er ließ die Originalproben aus dem Tuch verschwinden und ersetzte sie durch Stoff aus dem Mittelalter. So konnte er der Weltöffentlichkeit ein halbes Jahr später auf einer weltweit ausgestrahlten Pressekonferenz erklären, das Tuch sei eindeutig als mittelalterliche Fälschung entlarvt.»
Engel musste zugeben, dass ihm das Verfahren nicht vertrauenerweckend vorkam. Also fragte er den Marchese nach Beweisen für die Echtheit.
«Zunächst kann man eine Fälschung im Mittelalter ausschließen. Ein Fälscher hätte sich an die damaligen Vorstellungen gehalten. Er hätte eine Dornenkrone gemalt und keine Dornenhaube, er hätte die Wundmale in den Handinnenflächen platziert und nicht an der Handwurzel. Vor allem aber wäre kein mittelalterlicher Künstler in der Lage gewesen, ein solches Negativbild herzustellen. Selbst mit unseren heutigen technischen Möglichkeiten gelingt uns das kaum.»
Theresia Stone wollte wissen, wie das Bild denn dann zustande gekommen sei. Der Marchese ging vor der Nachbildung des Tuchs auf und ab und wedelte mit den Armen, als wolle er Insekten verscheuchen.
«Wir wissen es nicht. Es gibt viele Theorien. Jüngst vertrat ein Botaniker die Ansicht, der Körper sei von blühenden Blumen umkränzt gewesen. Das Tuch wäre über dem Leichnam zusammengeschlagen worden, und im Laufe der Zeit hätten sich die Umrisse sowohl des Körpers wie der Pflanzen in das Tuch gedrückt. Pollenspuren hat man jedenfalls bei verschiedenen Untersuchungen nachweisen können, und ein anderer Botaniker ist der Ansicht, dass Pflanzen in dieser Kombination in Jerusalem zwischen März und Mai geblüht hätten.»
Engel stand auf und warf ärgerlich ein:
«Es ist ja möglich, dass Ihr Tuch im Laufe der Geschichte in Jerusalem war. Das beweist allerdings nicht seine Echtheit.»
Der Marchese hob beide Hände und wackelte mit dem Kopf in einer seltsamen Weise hin und her.
«Natürlich, Herr Professor. Aber keine Angst. Wir haben Beweise genug. Einige der Fäden, die den Instituten zur Prüfung vorgelegt wurden, gelangten Gott sei Dank in unsere Hände. Sie enthalten die Chemikalie Vanillin, die im Originaltuch nie nachgewiesen werden konnte. Wie sollte sie auch. Vanillin zerfällt mit der Zeit, nach zweitausend Jahren ist es nicht mehr nachweisbar. Die Proben waren eine
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