Im Auftrag der Väter
und Pullover, beides schwarz, das blonde Haar war zu einem Zopf gebunden. Unter ihren großen, reglosen Augen war die Haut dunkel.
Wie schön sie war, dachte Louise. Wie krank.
Sie schwiegen.
Ich wollte was verändern, hatte Jenny Böhm in Oberberg gesagt. Aber
die
wollten nicht. »Die«, das waren der Kirchenvorstand, die Ehrenamtlichen. Die Alten, die seit Jahrzehnten da waren und zusahen, wie die Pfarrer kamen und gingen. Ihr Mann, der Veränderungen bedrohlich fand.
Louise hatte gedacht, dass es nicht so einfach sein konnte. Jenny Böhm hätte sich durchsetzen oder Kompromisse schließen, die Pfarrstelle wechseln, ihren Mann verlassen können. Sie war geblieben.
»Gehst du noch zu den Treffen?«
»Nein, schon lang nicht mehr.«
»Geh wieder hin, Jenny.«
Ein Kopfschütteln.
»Geh hin.«
»Nein«, flüsterte Jenny Böhm.
Louise verstand sie. Nichts stellte sie sich schlimmer vor, als bei einem AA -Treffen von Menschen umgeben zu sein, die durchhielten, wenn man selbst nicht durchgehalten hatte. Die die Anzahl der trockenen Tage nannten, während man selbst nicht mehr über ein paar Stunden hinauskam.
»Was willst du dann dagegen tun?«
Jenny Böhm zuckte die Achseln. »Du bist so stark und so selbstgerecht, Louise. So streng, mit dir selbst und mit anderen. So stolz.« Jenny Böhm erhob sich, setzte sich in die Bank unmittelbar vor Louise. »Riecht man es von hier?«
»Ja.«
»Stört es dich?«
»Ja.«
Jenny Böhm lachte überrascht. »Normalerweise halte ich Abstand, Louise. Ich stelle mich seitlich zu den Menschen, ich gehe hinter ihnen. Ich drehe ihnen den Rücken zu. Ich drehe meinen Kindern den Rücken zu, Louise.«
»Das Versteckspiel hat wieder begonnen.«
»Ja.«
»Das hab ich am meisten gehasst, das Verstecken.«
»Ich erinnere mich.«
»Es hilft, selbstgerecht und streng zu sein, Jenny.«
»Ja, wahrscheinlich hast du recht.«
»Allerdings hab ich recht.«
»Aber ich bin nicht so. Ich bin anders. Ich kann nicht streng sein, Louise. Ich kann mich nicht ins Zentrum der Welt stellen wie du. Wie würde das zu meinem Beruf passen?«
»Du
willst
es nicht.«
»Doch. Nein. Ach, ich weiß nicht.«
Louise legte ihre Hand auf die weiße Hand von Jenny Böhm und streichelte sie sanft.
»Wie schön, dass du hier bist, Louise.«
»Gehen wir ein bisschen spazieren?«
Sie verließen die Kirche, betraten den weitläufigen Friedhof daneben, den ein Gewirr aus Wegen und Pfaden durchzog. Zwischen kahlen Bäumen standen Hunderte Grabsteine im Nebel, die meisten alt und verwitternd, manche aus dem Lot gesunken, von Moos überzogen, von der Zeit geschwärzt. Hierher flüchte sie, sagte Jenny Böhm, wenn sie getrunken habe oder verzweifelt sei – zu den Toten, den stummen Toten, in deren Schweigen kein Vorwurf liege, sondern Frieden und Erbarmen.
Frieden und Erbarmen, dachte Louise.
Sie selbst sah auf Friedhöfen nur Schmerz und Leid, Gier und Hass. Sie sah die Lügen, die Gewalt, die Angst.
Jenny Böhm sah die Toten, sie die Lebenden.
»Haben unsere Freunde dich geschickt?«
»Nein.«
»Weil ich nicht mehr hingehe?«
»Aber nein.«
»Warum bis du dann gekommen?«
»Weil ich deine Hilfe brauche.«
»In theologischer Hinsicht?«
»Ja.«
Sie blieben stehen. Louise hatte vergessen, wie klein Jenny Böhm war. Sie reichte ihr kaum bis zur Nase. So klein, so schutzbedürftig. Und sie hielt tatsächlich Abstand.
»›Der Herr ist des Armen Schutz, ein Schutz in der Not.‹ Kennst du das?«
»Ein Psalm«, sagte Jenny Böhm und hob die Brauen.
»Ja. Psalm 9 , Vers 10 .«
»Manchmal heißt es auch ›ein Schutz in Zeiten der Not‹.«
»Wird dieser Vers bei bestimmten Gelegenheiten verwendet? Von bestimmten Leuten?«
Jenny Böhm wandte den Kopf zur Seite. Ihre Wangen waren leicht gerötet, vielleicht von der Kälte, vielleicht von der Scham. »Ich weiß nicht. Nein, ich glaube nicht. Andere Verse und vor allem andere Psalmen schon, aber dieser?«
Sie gingen weiter.
»Psalm 9 ist eine Art Danklied für die Rettung aus Bedrängnis. Der Herr, der die Armen und Bedrängten vor ihren Feinden rettet, ihnen Schutz bietet, weißt du. Der richtet und Gerechtigkeit verbreitet, indem er die Gottlosen
und ihre Städte auslöscht. Ein ziemlich alttestamentarischer Psalm, wenn man ihn wörtlich versteht. Sehr brutal und ...
männlich
. Aber vielleicht solltest du mit jemandem reden, der sich mit Bibelexegese und den Psalmkommentaren auskennt. Wenn du möchtest, rufe ich einen Kollegen
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