Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Arzt wandte Leah ihr Gesicht dem Meer zu. Dort lagen bestimmt schon bald weitere Schiffe des Pharaos vor Anker, zum ersten Mal seit Menschengedenken. Ein sichtbares Zeichen für das größte Imperium ihrer Zeit – aber auch ein Zeichen dafür, dass weitere Imperien erstehen würden und die Welt nie wieder sein würde, wie sie einmal war. Und dann blickte sie nach Osten, sah die große schwarze Rauchwolke über der Eisenschmelze, wo neuartige Waffen geschmiedet wurden, die von einem kommenden Krieg kündeten. Davids neues Emblem, sagte sie sich, bezieht sich nicht nur auf die Bruderschaft oder auf seine neue Schrift. Es ist ein Zeichen der Zeit.
Wir sind geboren, um den Sonnenuntergang der alten und den Sonnenaufgang der neuen Welt zu erleben, dachte Leah verwundert. Was mochte noch alles vor ihr liegen? Was immer es war, eines war gewiss: Sie hatte ihre Familie und David an ihrer Seite.
Nachwort
Drei faszinierende Geheimnisse der Geschichte haben mich zu diesem Roman ›Im Auge der Sonne‹ angeregt.
Das erste ist der Äskulapstab oder, ganz ähnlich, der Hermesstab. Der Ursprung dieses bekannten Symbols hat sich im Nebel der Zeit verloren. Mit einer oder zwei Schlangen, die sich einen gelegentlich mit Flügeln dargestellten oder von Engeln oder geflügelten Greifen flankierten Baum oder Stab hochwinden, ist es sehr alt und weitverbreitet. Es ist in Mesopotamien überliefert, lange bevor die Griechen den geflügelten Stab als Symbol des Gottes Merkur übernahmen. Die älteste bekannt gewordene Abbildung ist viertausend Jahre alt und geht auf das antike Sumer zurück, wo wir es in Steinmauern geritzt finden. Niemand weiß, wofür dieses Symbol ursprünglich stand, ehe es nach und nach zum Sinnbild für Heilkunde und Medizin wurde (auch im Alten Testament ist die Rede von einem Bronzestab mit Schlangen, den Moses gegen giftige Schlangenbisse einsetzt). Heute sehen wir die Schlange und den Stab in Krankenhäusern, auf Ambulanzen, Arzneiflaschen, Sauerstoffbehältern, Rezeptblocks. Was David und Leah wohl dazu sagen würden!
Das zweite ist die Herkunft des Alphabets. Allgemein davon ausgehend, dass es seinen Anfang um 2000 vor Christus nahm, wird vermutet, dass das erste Konsonantenalphabet (d.h. statt für Gegenstände oder Begriffe werden Zeichen für die Laute verwendet) die Sprache von semitischen Arbeitern in Ägypten wiedergibt. Im biblischen Sinne wären das die Israeliten zur Zeit Josephs. Tausend Meilen nördlich jedoch, in der syrischen Stadt Ugarit, entstand ein geheimes Alphabet, das nur einer Handvoll Schriftgelehrter in jener alten Stadt geläufig war. Niemand weiß, weshalb oder von wem dieses Alphabet entwickelt oder warum es geheimgehalten wurde. Sowohl in Ägypten wie in Mesopotamien waren die damals gebräuchlichen Schriften umständlich und nur mühsam zu erlernen, weil sie aus Tausenden von Zeichen bestanden, von denen jedes die verschiedensten Bedeutungen hatte. Das Alphabet von Ugarit scheint eine geeignete und ausgereifte Kommunikationsart zu sein – warum es also geheimhalten?
Meiner Ansicht nach lag das daran, dass die Schriftgelehrten ihre Macht über den Rest der Bevölkerung bewahren wollten – schließlich ist ein Mensch, der lesen und schreiben kann, anderen gegenüber, die das nicht können, enorm im Vorteil. Sobald die einfachen Bürger von Ugarit entdeckt hätten, dass auch sie die Macht des geschriebenen Wortes für sich nutzen konnten, hätte sich die Kunde über diesen neuen Code rasch ausgebreitet.
In der Tat haben die Phönizier ein paar Jahrhunderte später das Alphabet von Ugarit noch verfeinert, woraus dann jenes Alphabet wurde, das wir bis heute gebrauchen.
Was die Erfindung des Alphabets angeht, ist ein weiterer Aspekt interessant: Es erscheint mir bedeutsam, dass die allerersten Fragmente, die in dem neuen Code geschrieben waren, medizinische Texte waren, Rezepturen für Heilmittel und Heilverfahren. Nach der alten Erkenntnis, dass Not erfinderisch macht, erscheint es einleuchtend, dass die ersten Menschen, die eine neue, praktische Schreibweise erfanden, insbesondere eine, die weniger Unsicherheiten und Irrtümer zuließ, aus der Welt der Medizin stammten. So wichtig es sein mochte, festzuhalten, wem ein Olivenhain gehörte, wie viele Ziegen einem Gutsherrn zustanden oder welche Güter in einem Ehevertrag übertragen wurden – nichts konnte von so entscheidender, lebenswichtiger Bedeutung sein wie das richtige Rezept zur Heilung eines kranken
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