Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Tante Rakel, die sich mit einer Lampe näherte. Ihre Sandalen glitten lautlos über den Marmorfußboden. Ihre weißen Gewänder umwogten sie wie eine Wolke. Ihr Gesicht war kreidebleich.
»Rasch, Avigail«, sagte sie. »Zieh dich an. Wir müssen uns in Sicherheit bringen.«
Hastig kleidete ich mich an, und wir verließen über eine Hintertreppe das obere Stockwerk. An der Tür zu einem Geheimgang wartete bereits die restliche Familie. Meine Mutter hatte die Arme um meine beiden jüngeren Schwestern gelegt. Die Angst, die aus ihren Augen sprach, verriet mir den Ernst der Lage. Meine Mutter war eine Schönheit und von königlichem Geblüt. Jeder rühmte ihr selbstsicheres Auftreten, ihre Eleganz. In jenem Augenblick strahlte sie jedoch nichts als Entsetzen aus.
Zitternd und bebend hörten wir mit an, wie Geschrei unser Haus erfüllte, wie Gegenstände zerschmettert wurden, wie auf Ägyptisch herumgebrüllt wurde. Bestimmt war das nur ein Traum. Ein Albtraum, aus dem ich bald erwachen würde. Der König hatte uns Frieden zwischen Jericho und Ägypten zugesichert. Man hatte ein Abkommen unterzeichnet.
Unser Hausverwalter Avraham, der seit zwei Generationen unserer Familie diente, erschien. Sein langes schwarzes Gewand war ramponiert, die rote Schärpe hing nachlässig herunter. »Das Haus bietet keinen Schutz mehr, Herrin«, sagte er zu meiner Mutter. »Die Ägypter dringen in alle Wohnstätten ein. Außerhalb der Mauern sind wir sicherer. Ich werde euch zu den Hügeln führen.«
»Aber mein Gemahl …«
»Rasch, Herrin.«
Tante Rakel fasste mich am Arm. »Komm, Avigail, wir müssen uns in Sicherheit bringen.«
Ihr Gesicht war leichenblass. Furcht brannte in ihren Augen. Ihr Mann – mein Onkel – hielt sich im Armenviertel auf, mein Vater im Tempel. Würde der Allerhöchste sie beschützen?
Wir folgten Avraham durch einen schmalen Gang, den man vor langer Zeit als Fluchtweg innerhalb der Mauern angelegt hatte, war doch Jericho im Laufe der Jahrhunderte häufig überfallen worden. Wir rannten los, verängstigt, mit pochendem Herzen, in den Ohren die Schreie unserer Dienerschaft.
Wir gelangten ins Freie, in eine Nacht voller Chaos und Grauen. Menschen hetzten durch die Straßen, gejagt von feindlichen Soldaten hoch zu Ross. Wir drängten uns aneinander, warteten darauf, dass Avraham eine günstige Gelegenheit abpasste, um uns auf die Felder jenseits der Mauern zu bringen. Die Stadttore standen weit offen, und dort bot sich uns ein grauenvoller Anblick … lodernde Fackeln, Soldaten im Kampf Mann gegen Mann, Generäle in vergoldeten Streitwagen, ohrenbetäubendes Geschrei und Blut, entsetzlich viel Blut …
Wir rannten los.
Die Bewohner von Jericho flohen in alle Richtungen, die Straßen entlang, über Felder, die der Frühjahrsernte entgegensahen, mit Kindern und Besitztümern bepackt, einige nur notdürftig bekleidet, gejagt von den Schwertern und Speeren ägyptischer Soldaten.
Als unsere Gruppe im Licht des Vollmonds über ein Zwiebelfeld hastete, tauchte aus dem Nichts ein ägyptischer Kavallerist auf und lenkte sein Pferd im Galopp auf uns zu. Ich wich seitwärts aus, entkam um Haaresbreite den donnernden Hufen. Meine Mutter sprang zur anderen Seite, aber da senkte sich das Schwert des Soldaten in einem unheilvollen Bogen, die Klinge durchtrennte den Hals meiner Mutter so sauber wie eine Sichel eine Garbe Weizen. Ich sah ihren Kopf in die Luft fliegen, den überraschten Ausdruck auf ihrem Gesicht. Das Kriegsross stürmte weiter, während der weißgekleidete Körper meiner Mutter gleich einer umstürzenden Statue zu Boden sank.
Mit offenem Mund stand ich da. Ich konnte in jenem Augenblick nicht begreifen, was sich da abspielte, was gerade geschehen war. Wie betäubt sah ich mich nach Mutters Kopf um. Warum, weiß ich nicht. Aber es schien mir wichtig festzustellen, wo er hingeflogen war.
Alles, woran ich mich danach erinnere, ist, dass ich von starken Armen umfangen wurde, dann wurde es dunkel um mich herum.
Als ich wieder zu mir kam, befand ich mich inmitten einer Gruppe von Flüchtlingen in den Bergen westlich von Jericho. Noch war es Nacht. Viele hatten Zuflucht in Höhlen oder in dicht bewaldeten Hainen gesucht, wo sie aneinandergeklammert voller Entsetzen mit ansahen, wie Jericho der Armee des Pharaos erlag.
Aus der Dunkelheit tauchte eine hochgewachsene Gestalt auf. Dem Allerhöchsten Preis und Dank, es war Rakels Sohn, mein Vetter Yacov. Er war es, der mich zu den Hügeln getragen hatte, ehe
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