Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
drüben.« Avigail rollte das Tuch der Länge nach zusammen und schob es Leah unter das Kleid. »Schon besser«, sagte sie und betrachtete ihr Werk.
»Wird Jotham nicht verärgert sein, wenn er die Schummelei bemerkt?«
Avigail lachte. »Glaub mir, liebes Kind, in der Hochzeitsnacht bemerkt kein Mann mehr den genauen Hüftumfang seiner Braut. Und jetzt hör gut zu: Um den Klang deiner Stimme zu beurteilen, wird Jotham eine Frage an dich richten. Wenn du antwortest, sprich ihn mit ›Mein Gebieter‹ an, so als wärest du bereits seine Ehefrau.« Sie zupfte Leahs Schleier zurecht. »Wunderschönes Haar hast du. So dicht und lang. Ich wünschte, du könntest es Jotham zeigen. Er würde es sich nicht zweimal überlegen, dich zur Frau zu nehmen.«
Sie trat einen Schritt zurück, um ihre Enkelin zu bewundern. Leah war bildhübsch. Groß und schlank, mit klaren Gesichtszügen und großen glänzenden Augen. Ihre Stirn war so ebenmäßig, dass Avigail hoffte, sie würde eines Tages mit goldenen Ringen geschmückt sein, um wie bei Avigail selbst den Reichtum ihres Ehegatten zur Schau zu stellen. »Sprich ein Gebet, Leah. Wenn heute Abend alles nach Wunsch verläuft, wirst du bald die Herrin eines prächtigen Hauses mit Blick über den Hafen sein. Du wirst viele Sklaven und Diener befehligen. Und wenn du mit deinem ersten Sohn niederkommst, wird dich jede Frau in Kanaa beneiden.«
Tiefste Zufriedenheit erfüllte Avigail. Zum ersten Mal seit Jahren fühlte sie sich ganz im Einklang mit der Welt und genoss die sichere Überzeugung, dass ihre Familie weiterbestehen würde.
Der Albtraum von Jericho war nie ganz von ihr gewichen. Und so hatte sie alles daran gesetzt, die Sicherheit und den Schutz ihrer Familie zu gewährleisten. Von dem Moment an, da sie als Jungvermählte in diese Villa eingezogen war, hatte sie entschlossen und zielstrebig diese Aufgabe angepackt. Das Haus von Elias wurde inzwischen von einer starken und loyalen Schutztruppe bewacht, die in regelmäßigen Abständen um die äußeren Mauern patrouillierte. Sie war bewaffnet und darauf eingeschworen, jedweden Eindringling bis auf den Tod zu bekämpfen. Um ganz sicherzugehen, dass ihre Familie wirklich beschützt wurde, hatte Avigail darüber hinaus jedem Wachhabenden, der sich im Ernstfall bewährte, eine großzügige Belohnung zugesagt. Schlau, wie sie war, hatte sie außerdem dafür gesorgt, dass Angehörige aller Wachposten als Sklaven oder als Diener im Haus lebten und arbeiteten – ein zusätzlicher Anreiz, Überfälle entschlossen abzuwehren.
Weitere Sicherheitsvorkehrungen umfassten ein versteckt gelegenes und mit Vorräten gefülltes Haus oben in den Bergen – ein Zufluchtsort für ihre Familie, falls Ugarit einmal von feindlichen Truppen überrannt werden sollte. Auch Gold war auf diesem abgelegenen Grundstück vergraben; sollte also die Familie flüchten müssen, hätte sie immerhin Geld für Nahrung und Unterkunft. Seit Jericho war Avigail besessen von dem Gedanken, alles zu tun, damit ihrer Familie nie wieder jene Schrecken widerfahren würden, die sie selbst, ihre Schwestern und Rakel hatten ertragen müssen.
Und jetzt, heute Abend, sah sie sich auf dem Gipfel des Erfolgs für all ihre Bemühungen und ihre Entschlossenheit. Leah würde mit einem der reichsten Männer Syriens verlobt werden, ihre Zukunft war gesichert. Danach galt es, einen Ehemann für Tamar zu suchen. Zum ersten Mal seit Jahren würde Avigail, wenn es donnerte, nicht an Streitwagen denken und zu Tode erschrecken. Sie würde wissen, dass es nur der Regen war, der geräuschvoll niederging, und die Nacht damals, vor vielen Jahren, würde sie nur noch daran erinnern, dass sie im Bett gelegen und an ihren geliebten Benjamin gedacht hatte.
Sie lächelte. Der Kreis schloss sich. Das Leben war angenehm, ihre Familie gesegnet.
Vielleicht könnte sie dann sogar eine Reise nach Jericho unternehmen. Ihre Schwestern waren zu den Göttern gegangen, ihr Cousin Yacov war vor langer Zeit bei einem Unfall gestorben. Avigail und Tante Rakel waren die Einzigen, die von jener furchtbaren Nacht übrig geblieben waren. Jericho stand wieder unter kanaanäischer Verwaltung. Nach jenem so ungeheuerlichen Überfall hatte es keine weiteren gegeben. Es hieß, Ägypten verfüge über ausreichend Sklaven zur Errichtung seiner Bauwerke. Nach und nach waren Bewohner, die hatten fliehen müssen, wieder in ihre Häuser zurückgekehrt, zumal viele Ägypter die Stadt rasch verließen, so dass letztendlich nur
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