Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
noch eine Handvoll Vertreter des Pharaos in Jericho darüber wachte, dass jährlich der volle Tribut an die Staatskasse Ägyptens entrichtet wurde. Wie schön es doch wäre, ihr Elternhaus wiederzusehen, sinnierte Avigail wehmütig vor sich hin.
Eine Sklavin trat ein und raunte ihrer Herrin etwas zu. »Asherah sei gelobt«, sagte Avigail lächelnd. »Jotham ist eingetroffen und lässt sich bereits den ersten Becher Wein schmecken. Wir können jetzt hinuntergehen. Erflehe den Segen der Götter und denk daran, dir den Schleier vors Gesicht zu halten.«
»Warte!«, rief die zwölf Jahre alte Esther. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und steckte Leah eine eben aufgegangene süß duftende Jasminblüte ans Ohr.
»Ich danke dir, Esther«, sagte Leah. Die arme Esther war mit einer gespaltenen Lippe zur Welt gekommen, weshalb es ihr bestimmt zu sein schien, unverheiratet zu bleiben und sich später einmal um ihre alten Eltern zu kümmern.
Die hübsche Tamar, sechzehn Jahre alt, wollte nicht zurückstehen. Mit einem »Hier, für dich, liebe Schwester« zog sie sich einen Ring ab und schob ihn auf Leahs Finger.
Verwundert sah Avigail ihre zweite Enkelin an, die für ihren Egoismus bekannt war. »Das ist aber wirklich selbstlos von dir, Tamar.«
»Ist auch nur für heute Abend. Danach will ich ihn zurückhaben.«
Als sie erkannte, weshalb sich Tamar derart großzügig gab – sie durfte nämlich nicht heiraten, ehe nicht ihre ältere Schwester verheiratet war –, dachte Avigail einen Moment lang über die Enkeltochter nach, der sie weniger zugetan war als den beiden anderen. Wie sie wusste, hatte Tamar ihr Herz an den Sohn eines Olivenanbauers verloren. Eine weitere glänzende Verbindung wäre das, überlegte Avigail, obwohl sie das unbestimmte Gefühl hatte, dass Tamar, ganz gleich, wen sie heiratete, niemals so ganz glücklich werden würde.
»Es ist Zeit«, wandte sie sich erneut an Leah, ihren Liebling. »Erflehe den Segen der Götter.«
Die Villa war um einen zentralen Hof gebaut, der nach oben hin offen war, um das Tageslicht und die Sonne hereinzulassen und auch den Regen, der in Abständen die Zisterne in der Mitte füllte. Um diesen gepflasterten Hof herum zog sich eine von Säulen getragene Loggia, von der aus Türen zu den inneren Räumlichkeiten führten. In dieser westlichen Hälfte des Hauses spielte sich das tägliche Kommen und Gehen ab, auch Besucher wurden hier empfangen. Die Küchen, die Wäscherei, Vorratslager und, in einem umzäunten Hof, Laufställe für Tiere sowie ein Schuppen, in dem geschlachtet wurde, befanden sich in der östlichen Hälfte des Anwesens, so dass der meist vom Meer kommende Wind die Gerüche vom Haus forttrieb.
Ursprünglich war das herrschaftliche Haus ebenerdig gewesen, ehe man dann im Laufe von Generationen Räume auf dem Dach errichtet hatte, so dass ein vollständiges oberes Stockwerk entstanden war. Hier befanden sich die Privaträume von Elias, dem Hausherrn, sowie leere Schlafkammern, die darauf warteten, von Söhnen und Enkeln bewohnt zu werden. Auf der anderen Seite des offenen Hofs lagen die Schlafkammern der Frauen und ihre abgeschirmten Höfe und Gärten, deren Betreten Männern grundsätzlich untersagt war.
Über dieses obere Stockwerk zog sich ein mit viel Grün bepflanztes Flachdach, von dem aus sich ein Blick auf die familieneigenen Weinberge bot, die sich über die Hänge der umliegenden Hügel erstreckten und, weiter entfernt, auf die Stadt Ugarit. Das Haus von Elias, dem Kanaaniter, war eines der höchsten und geräumigsten im Lande, und seine prachtvolle Ausstattung erregte den Neid vieler wohlhabender Familien.
Avigail begleitete Leah in die Empfangshalle, in der ihr Sohn Elias den Gast unterhielt. Im Schein glänzender Bronzelampen lagerten die beiden Männer, den Rücken an dicke Kissen gelehnt, auf kostbaren Teppichen, derweil Sklaven goldene Platten mit Köstlichkeiten aus der Küche auftrugen: Kammmuscheln, speziell geformte Brotlaibe, künstlerisch arrangierte gebratene Spargelspitzen, Schweinekoteletts, Spanferkel und nicht zuletzt die in Ugarit beliebten Blutwürste. Dass Leah gleichzeitig mit dem Auftragen der Speisen im Saal erschien, symbolisierte ihre Rolle als diejenige, die ihren Herrn bedient.
»
Shalaam,
Em Elias«, sagte Jotham zu Avigail, nicht ohne das schweigsame Mädchen an ihrer Seite mit einem kurzen Blick zu streifen. Im Gegensatz zu seinem Gastgeber, der eine braune Tunika unter einem konservativen Gewand mit einer
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