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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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wir sollten irgendwo anrufen.« Toms Stimme klang weit, weit weg.
    Anna zog die Hand zurück und nickte.
    Der gröbste Rauch hatte sich aus der Küche verzogen, stattdessen war kühle Frühlingsluft hereingeströmt. Und das Geld lag noch immer auf der Theke, genau dort, wo sie es abgelegt hatte. Neben dem Telefon.
    »Was denkst du, wie es passiert ist?«, fragte sie.
    Tom schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht. Herzinfarkt? Schlaganfall?«
    »So alt war er doch noch gar nicht.«
    »Mein Onkel hatte seinen mit zweiundvierzig. Bill war wahrscheinlich älter.«
    Anna nahm eines der Geldbündel in die Hand und ließ es geistesabwesend gegen die Theke klatschen. »Wahrscheinlich hast du Recht. Vielleicht hatte er irgendwas, irgendeine Krankheit.«
    Tom nickte langsam. »Da stand ja auch diese Medizinflasche auf dem Nachttisch.«
    »Mein Gott.« Sie schauderte. »So ganz allein zu sterben, ohne Familie, ohne Freunde, nicht mal ein Arzt! Ganz allein im Schlafzimmer.«
    »Kein schöner Tod.« Tom reihte die Bündel ordentlich nebeneinander auf. »Aber ich weiß nicht, vielleicht hätte er es so gewollt. Schließlich hat er auch so gelebt. War schon ein ziemlicher Einsiedler.«
    Sie verstummten. Beider Blicke waren auf die Theke gerichtet, auf das Geld und das Telefon. Ein frischer Wind wehte durchs Fenster herein, verbreitete den süßen, elektrisierenden Duft des Frühlings und versprach Regen und Sturm. Währenddessen nahm eine Idee in Annas Kopf Gestalt an, schlüpfte langsam wie ein Küken aus dem Ei. Sie ließ es zu. Sie trug nichts dazu bei, aber sie wehrte sich auch nicht gerade dagegen. Sie gab der Idee einfach nur Raum. Schließlich strich sie sich eine Strähne hinters Ohr und sagte: »Wie in einer dieser Geschichten, von denen man immer liest.«
    »Welche Geschichten?«
    »Du weißt schon, diese Räuberpistolen. Ein Mann lebt allein in einem billigen Hotel, die Nachbarn sagen, er ist ein ruhiger Typ, hat nie Besucher. Dann riecht es eines Tages komisch, und als sie die Tür aufbrechen, finden sie ein Sparbuch mit einer Million Dollar drauf.«
    Tom lachte. »Und hundert Schachteln Makkaroni mit Käse.«
    »Und siebzehn Katzen.« In der Küche eines Toten solche Witze zu reißen, war ganz schön makaber, aber gleichzeitig fühlte es sich gut an. Es rief ihr in Erinnerung, dass sie noch lebte, dass sie sich dem erbarmungslosen Ticken entgegenstellte.
    »Die Polizei wird das Geld beschlagnahmen«, sagte Tom.
    Überrascht blickte Anna auf. Sie schaute ihm in die Augen  – und wusste, dass er dieselbe Idee ausgebrütet hatte. »Vielleicht hat er Familie.«
    »Was für eine Familie? Der Typ hat doch nicht mal Besuch bekommen, ist nie arbeiten gegangen und hatte anscheinend keinen einzigen Freund. Meine Güte, immer wenn wir mal Hallo gesagt haben, hat er uns angefahren!«
    »Stimmt schon.« Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich verpflichtet, die Gegenmeinung zu vertreten, auch wenn ein Teil von ihr keine Lust darauf hatte. »Trotzdem.«
    Tom zuckte die Achseln. »Ja, vielleicht hast du Recht.« Aber er griff nicht nach dem Telefon.
    Anna atmete langsam aus und strich mit dem Finger über das Geldbündel in ihrer Hand. Es war genug, um den Großteil ihrer Schulden abzuzahlen, die Kreditkarten, die Klinikrechnungen. Genug, um ihnen den größten Druck zu nehmen, um die unsichtbare Schlinge zu lockern, die sich mit jeder Mahnung ein Stückchen enger um ihren Hals zog.
    Und genug, um ihnen einen weiteren Versuch zu verschaffen. Eine weitere Chance beim großen Schwangerschaftsroulette.
    Das Geld gehört euch nicht. Es wäre falsch.
    Aber wem gehört es eigentlich? Warum sollte es nicht uns gehören? Was genau ist so falsch daran?
    Sie schaute sich in der Küche um. Es sah wirklich schlimm aus: ein verkohlter Herd, eine angesengte Wand, überall Mehl, offen stehende Schranktüren, und in den Schränken Lebensmittel, Pfannen, Töpfe und Gläser – lauter Dinge, die Bill Samuelson nicht mehr brauchen würde. Und noch etwas anderes. Plötzlich war Annas Mund wie ausgetrocknet. Toms Name kam nur als Krächzen heraus.
    »Was?« Offenbar hatte er ihren merkwürdigen Tonfall bemerkt, denn er blickte sie mit verändertem Gesichtsausdruck an. Tom folgte ihrem Finger, der auf den Schrank zeigte, in dem Anna das rettende Mehl gefunden hatte.
    Noch ein Zehn-Pfund-Paket Mehl, neben einer Riesentüte Zucker und einer Ansammlung verschiedenster Schachteln.
    Acht weitere Bündel im Mehl.
    Sechs im Zucker.
    Sieben unter einer dünnen

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