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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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Klatschen unter einem weißen Gebirge begraben wurden. Einzelne Teilchen stiegen in der Hitze auf, drehten sich und tanzten in der Luft wie Staubpartikel.
    Tom hörte, wie sein Atem pfeifend ausströmte, und merkte erst jetzt, dass er die Luft angehalten hatte. Die Welt war wie verwandelt, ein merkwürdiger Augenblick, in dem die Panik verflog und alles zur Normalität zurückkehrte. Einen Moment lang starrten sie einander wortlos an, bis Tom sagte: »Gute Idee.«
    »Was!?«
    Der Alarm! Tom entdeckte den kleinen Rauchmelder über der Küchentür, streckte sich zur Decke, um ihn herunterzureißen, und entfernte die Batterie. Das Schrillen verstummte. Er drehte sich wieder zu Anna um. »Gute Idee, hab ich gesagt.« Als er sie näher betrachtete, musste er lächeln. »Hey, Casper.«
    In der einen Hand hielt Anna noch immer die leere Tüte, Gesicht und Haar waren von einer weißlichen Mehlschicht überzogen. Kurz blickte sie ihn verwirrt an, bevor sie ihre gepuderten Arme sah und in Lachen ausbrach.
    Auch Tom lachte, wedelte mit den Händen, um den Rauch zu vertreiben, und trat einen Schritt auf den Herd zu, innerlich auf den Schaden gefasst. Was war zu erwarten? Das Feuer hatte sich auf den Herd beschränkt, Gott sei Dank. Der war also schon mal hinüber, genauso die Mikrowelle, die darüber angebracht war. Die dünne Wand dahinter würde man erneuern müssen und die ganze Küche brauchte einen neuen Anstrich. All das entsprach seinen Erwartungen.
    Was seinen Erwartungen nicht entsprach, waren die fünf ordentlich verschnürten Bündel Hundert-Dollar-Noten, die er mitten in dem zerklüfteten Mehlgebirge entdeckte.
     
    Als Tom ihren Namen sagte, hatte Anna ihm gerade den Rücken zugekehrt und den Wasserhahn aufgedreht, um sich das Mehl abzuwaschen. Toms ruhiger Tonfall jagte ihr Angst ein.
    Anna wandte sich um und sah ihn vor dem Herd stehen. Vielleicht hat er sich verbrannt, dachte sie, oder das Feuer hat mehr Schaden angerichtet, als er vermutet hatte. Dann folgten ihre Augen seinem ausgestreckten Finger.
    Mitten im Mehl lagen Geldbündel.
    Das war so unpassend, dass sie zusammenzuckte. Geld behandelte man mit Sorgfalt, man faltete die Scheine ordentlich zusammen und bewahrte sie in der Brieftasche auf. Auf dem Gehsteig sprang einem eine Dollarnote ja auch sofort ins Auge, fast als leuchtete sie neongelb. Ganze Bündel von Geld, ja, mehrere Bündel zu sehen, stapelweise weiß gepudertes, ausgeblichenes Grün mit dem pausbackigen Porträt Benjamin Franklins, das ahnungslos in die Höhe starrte – das reichte, um irgendetwas in ihr kippen zu lassen.
    »Lieber Himmel.« Sie trat neben Tom. Gemeinsam blickten sie hinab auf das Geld, während ihr Hirn vergeblich versuchte, nach Zahlen zu malen, die nicht einmal im selben Postleitzahlenbereich zu liegen schienen. Brennendes Fett. Das sie mit Mehl erstickt hatte. Und jetzt lagen Tausende Dollar auf dem Herd. Die reinste Alchemie.
    Anna streckte die Hand aus und hob eines der Bündel auf. Es fühlte sich weich und abgenutzt an und deutlich schwerer, als sie gedacht hatte, so als Hunderterpack. Sie blätterte es mit dem Daumen durch. Eine kleine Mehlwolke stieg auf. Einhundert Hunderter. Zehn Riesen. Mehr Bargeld, als sie jemals in der Hand gehabt hatte. Der Lohn von zwei Monaten Arbeit, ungefähr. Mit den anderen Bündeln zusammen etwa neun Monate. Neun Monate voller Zwölf-Stunden-Tage, voller Nachrichten auf dem Anrufbeantworter, voller schlafloser Nächte und Schlachten im Sitzungssaal. Neun ganze Monate in einer Tüte Mehl, die sie über einem Feuer ausgeleert hatte. Ein Gedanke nahm von ihr Besitz, die Gier fuhr ihr in die Finger, und sie griff sich den Rest des Geldes.
    »Was tust du da?«, fragte Tom.
    In der einen Hand hielt sie zwanzig Riesen, in der anderen dreißig. »Nur falls das Feuer wieder losgeht.« Anna sagte die Wahrheit – natürlich war das ihre wahre Absicht gewesen, natürlich wollte sie das Geld nur in Sicherheit bringen und hier, auf der Theke, ablegen. Aber jetzt stellte sie fest, dass sie es eigentlich gar nicht loslassen wollte. Sie blickte auf Tom, registrierte seine geweiteten Augen, seinen halb geöffneten Mund. Nach zwölf, dreizehn gemeinsamen Jahren konnte sie seine Gedanken problemlos von seinem Gesicht ablesen: Er berechnete dieselbe Gleichung wie sie, er stellte sich dieselben Fragen. »Der Herd war an, als wir reinkamen, oder?«, fragte Anna.
    »Ja. Ich denke, so ist das Feuer ausgebrochen.« Er machte eine Pause. »Vielleicht ist er

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